Umstrittene Ansätze in der Psychiatriereform

■ Bezirkliches Auffang- oder Einfangnetz / Bedürfnisse der Patienten sollen stärker beachtet werden, doch Betroffene dürfen nicht mitreden / „Sie könnten den ganzen Laden sprengen“ / Ein Neuroleptika-Verbot mittels „Psychiatrietestament“ durch die Hintertür? / Psychosozialen Einrichtungen und Selbsthilfegruppen fehlt Geld

„Gemeindenah“ heißt seit langem das Schlagwort in der Psychiatriepolitik. Keine Großkliniken mehr, statt dessen Regionalisierung und Förderung ambulanter Einrichtungen. Sybilla Fried, Psychiatriebeauftragte der Gesundheitsverwaltung, ist überzeugte Verfechterin dieses Konzepts. „Wir wollen die Verantwortung für psychisch Kranke in die Bezirke tragen.“ Betroffene sollen nicht mehr quer durch die Stadt von einer Einrichtung zur nächsten weitergereicht, sondern allein in „ihrem“ Bezirk versorgt werden - stationär und ambulant. Tageskliniken, Übergangswohnheime, Kriseninterventionen und therapeutische Wohngemeinschaften sollen ein feinmaschiges Netz knüpfen, das jeden auffängt, aber auch jeden einfängt.

Der Reformansatz aus der Gesundheitsverwaltung ist umstritten. Die „Irrenoffensive“, eine Selbsthilfeorganisation von Betroffenen, sieht mit der Regionalisierung eine umfassende Kontrolle der Patienten einhergehen. Ähnliche Bedenken äußert auch die gesundheitspolitische Sprecherin der AL, Gisela Wirths. Die Regionalisierung und damit verbundene Vernetzung der Einrichtungen könnten zum „gläsernen Patienten“ führen. Sie will zwar vermeiden, „daß die Leute auf der Straße sitzen und gar nicht mehr versorgt werden“, doch schwebt ihr eine andere Form von Anlaufstellen vor. „Einrichtungen, zu denen die Leute hingehen und anonym bleiben können.“

So einschneidend wird die Verkleinerung der Großkliniken erst einmal nicht ausfallen. Die Karl-Bonhoeffer -Nervenklinik, mit rund 1.000 Betten die größte psychiatrische Klinik in Berlin, soll auf 900 Betten gestutzt werden. Sybilla Fried will kleine Kulturinitiativen, Galerien, Cafes und Theater auf dem Gelände unterbringen und die Mauern um die Anlage entfernen, „daß man da durchgehen kann, wie durch einen ganz normalen Stadtteil“.

Analog zur Bundesreform des Vormundschaftsrechtes, das einen Betreuer für die juristischen Angelegenheiten der Patienten vorsieht, plädiert Sybilla Fried für einen „persönlichen Begleiter“ für jeden Psychiatriebetroffenen. Der oder die soll sich um alle medizinisch-sozialen Belange des Betroffenen kümmern.

Um das Konzept der bezirklichen Versorgung umzusetzen, hat die Psychiatriebeauftragte erst einmal umfangreiche Fragebögen verschickt. Daß es mit der Auswertung und Planung so lange dauert, ist ein Kritikpunkt. Daß trotz des progressiven Anspruchs die Psychiatriebetroffenen bei der Planung fehlen, ein anderer. Man wolle sich erstmals „an den Bedürfnissen der Patienten, nicht denen der Kliniken“ orientieren, doch deren Anwesenheit schafft bei Sybilla Fried eher Unbehagen. Betroffene können den „ganzen Laden sprengen.“ Umstritten ist beispielsweise die Rolle der „Irrenoffensive“, die mit ihrer Forderung nach Abschaffung der Psychiatrie schon häufiger für Lebhaftigkeit bei öffentlichen Diskussionen gesorgt hat. Nach Auffassung der Psychiatriebeauftragten fühlten sich längst nicht alle Patienten von der „Irrenoffensive“ vertreten. „Viele Ver -rückte fühlen sich auch nicht von Nervenärzten, Politikern und Gesundheitsbürokraten vertreten“, hält Gisela Wirths, gesundheitspolitische Sprecherin der AL, dagegen. Bei ihren Versuchen, sich für eine Beteiligung der Betroffenen einzusetzen, stoße sie oft auf eine „erstarrte Bürokratie“.

Die AL-Politikerin will auch mit Themen wie Elektroschockbehandlung und Neuroleptika-Vergabe (siehe Kasten) stärker an die Öffentlichkeit treten. Ein Verbot von Neuroleptika, wie es zum Beispiel die Grünen in München gefordert haben, ist in Berlin nicht in Sicht. Im Gesundheitsbereich der AL sei da „bisher wenig gelaufen“, räumt Gisela Wirths ein. Ein solches Problem müsse auf einer Bund-Länder-Konferenz besprochen werden. Wirths will sich vorerst auf die geplante Enquete-Kommission zur „Versorgungssituation von psychisch Kranken und Behinderten“ konzentrieren und dieses Mal die Beteiligung der Betroffenen durchsetzen. Quasi durch die Hintertür könnte ein Verbot von Neuroleptika doch erfolgen: Im Rahmen der geplanten Änderungen des Berliner „Gesetzes für Psychisch Kranke“ (Psych KG) soll ein „Psychiatrietestament“ eingeführt werden. Jeder könnte danach im „Zustand der nicht angezweifelten Vernunft und Normalität“ eine schriftliche Erklärung verfassen, in der man genau festlegt, wie man behandelt - oder eben nicht behandelt werden will, sollte man für geisteskrank oder behandlungsbedürftig erklärt werden.

Nach Auskunft des Rechtsanwalts und Psychiatrieexperten Hubertus Rolshoven zeige eine solche Erklärung durchaus Wirkung. „Patienten, die festgelegt haben, auf keinen Fall mit Neuroleptika behandelt zu werden, bekommen sie dann auch nicht.“

Keine Psychopharmaka irgendwelcher Art soll es im „Weglaufhaus“ geben, einem von der „Irrenoffensive“ geplanten Projekt. Hier sollen Patienten, die aus der Psychiatrie geflohen sind, ganz legal wohnen dürfen und unter Betreuung von anderen ehemaligen Patienten wieder zu Selbstbestimmung kommen und neuen Lebensmut schöpfen. Trotz intensiver Öffentlichkeitsarbeit der „Irrenoffensive“ und einer anonymen Spende von einer Million Mark ist die Finanzierung des „Weglaufhauses“ immer noch nicht gesichert. Damit teilt das Projekt das Schicksal des gesamten psychosozialen Bereichs. Politischer - oder zumindest guter Wille zu neuen Ansätzen ist zwar da, aber das Geld fehlt. Im Landeshaushalt für 1990 sind rund acht Millionen Mark für das Psychiatriereferat vorgesehen. 31 Projekte und eine Selbsthilfegruppe sollen davon finanziert werden. AL, Ärztekammer und die „Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften“ haben die Haushaltsplanung scharf kritisiert. Der Haushalt für den Psychiatriebereich werde faktisch eingefroren - die Reformpläne zwangsläufig auch.

Lars-Ulrich Schlotthaus