Mut zur Wahrheit

Antrittsrede des neuen DDR-Staatsratsvorsitzenden Krenz vor der Volkskammer (in Auszügen)  ■ D O K U M E N T A T I O N

Der Auftrag des Volkes an uns erlegt uns heute drängender als je die Pflicht auf, mit Kompetenz, Konsequenz und Mut zur Wahrheit auf die Erfordernisse der Zeit zu reagieren und ständig bessere Antworten auf die nicht einfachen Fragen zu finden, die in unserem Land der Lösung harren.

Politik für die Menschen aller Klassen und Schichten läßt sich indes nur machen, wenn man ihren Fleiß und ihre Lebenserfahrung, ihre Interessen und Bedürfnisse, ihr Urteilsvermögen, ihre Hinweise und ihre Sorgen täglich bewußt zur Kenntnis und zur Grundlage politischer Entscheidungen nimmt. Der Dialog dient dem.

Die Vielfalt der Meinung bereitet den Boden für einen fundierten und freimütigen Dialog. Aus dem Für und Wider in der Debatte um die besten Varianten für die Ausgestaltung unserer Gesellschaft erwächst die Chance, die zum gegebenen Zeitpunkt effektivste und damit für die Bürgerinnen und Bürger beste Lösung zu finden.

Gemeinsam sollten wir alles tun, um jede Zuspitzung oder gar Konfrontation zu vermeiden. Diese würde die Gefahr heraufbeschwören, vieles, was in Bewegung gekommen ist, in Frage zu stellen. Demonstrationen, so friedlich sie gedacht und angelegt sein mögen, tragen in dieser Zeit immer die Gefahr in sich, anders zu enden als sie begonnen haben. Zu Recht beunruhigt das viele Bürger. Unsere Gesellschaft, die so vieles Neue in Angriff zu nehmen hat, wird dadurch zusätzlich unter Spannung gesetzt. Ich meine, auch jene nicht, die glauben, der Weg zur Wahrheit ließe sich allein mit Emotionen finden oder gar beschreiten.

Die Volkskammer sollte ihre parlamentarische Praxis wieder aufnehmen, Gesetzentwürfe in zwei oder - wenn nötig - in mehreren Lesungen zu behandeln. Es scheint angeraten, auch in der Volkskammer einen Ausschuß für Umweltschutz zu bilden.

Zur besseren parlamentarischen Arbeit der Volkskammer gehört, daß die Massenmedien die Bürger von ihr und aktuell über den Prozeß der parlamentarischen Willensbildung informieren. Die Öffentlichkeit will über die Tätigkeit der Volkskammer, ihre Ausschüsse und der Abgeordneten Bescheid wissen. Dem sollte mit einer umfassenden gezielten Parlamentsberichterstattung Rechnung getragen werden. Was für die Volkskammer und die Regierung gilt, gilt auch für die Arbeit der örtlichen Volksvertretung.

Ich erachte es als dringlich, daß sich der Staatsrat auf einer seiner nächsten Sitzungen mit seinem Arbeitsprogramm und einem neuen Arbeitsstil befaßt. Alle dafür eingehenden Überlegungen und Vorschläge werden in die Debatte eingebracht.

Für die Vorbereitungen der Wahlen zur Volkskammer und zu den Bezirkstagen 1991 sind alle Erfahrungen aus vorangegangenen Wahlen sowie Hinweise und Eingaben zu ihnen gründlich aufzuarbeiten und falls erforderlich, für die Wahlgesetzgebung selbst zu berücksichtigen.

Ich betone hier noch einmal ausdrücklich, vor dem Gesetz ist jedermann gleich und entsprechend gleich zu behandeln. Entsprechend diesem Verfassungsprinzip besteht die Absicht, die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen auf weitere Bereiche der staatlichen Tätigkeit auszudehnen. Dadurch wird der Rechtsschutz der Bürger weiter erhöht.

Als nächste Gesetzgebungsaufgabe steht unter anderem die Behandlung des Reisegesetzes auf der Tagesordnung. Wie Ihnen bekannt ist, gibt es in unserer Öffentlichkeit Fragen zur unterschiedlichen Behandlung von Bürgern, die unseren Staat unter Umgehung der Gesetze verlassen haben, beziehungsweise den Versuch dazu unternommen haben. Den Justizorganen sollte deshalb empfohlen werden, umgehend rechtliche Regelungen zu schaffen, um auch auf diesem Gebiet dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz Rechnung zu tragen und jede Zweigleisigkeit auszuschalten.

Ich möchte die Tribüne dieses hohen Hauses nutzen, um erneut an unsere Mitbürger zu appellieren, die sich möglicherweise weiterhin mit dem Gedanken tragen, unser Land zu verlassen. Unsere Heimat, ihre Freunde, ihre Kollegen, wir alle brauchen sie. Jeder der uns verläßt, ist einer zuviel.

Daß es bei einigen Demonstrationen zu Härten kam, ist zu bedauern. Wer ungerecht oder unwürdig behandelt worden ist, kann jeden Rechtsschutz und alle Rechtsmittel in Anspruch nehmen. Die verantwortlichen Staatsorgane werden Anzeigen gewissenhaft prüfen und wo Beweise vorliegen, schuldhaftes Verhalten ahnden. Die Achtung und der Schutz der Würde der Persönlichkeit sind Verfassungsgebot für die Arbeit aller Staatsorgane.

Noch heute werden wir auf einer Sitzung des Staatsrates einen Bericht des Vorsitzenden des Ausschusses für Nationale Verteidigung entgegennehmen und ihn der Öffentlichkeit zugänglich machen. Es muß jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die Volkspolizei unserer Arbeiter- und Bauernmacht entsprechend den geltenden Gesetzen die Aufgabe hat, das friedliche Leben, die Arbeit der Bürger zu sichern. Niemand sollte sich von dem Streben nach Vergeltung leiten lassen. Wohl aber sollten wir den festen Vorsatz haben, durch alle Formen des Dialogs auszuschließen, daß es erneut zu solchen Vorgängen kommt.

Die Demonstrationen mögen ihre Funktion gehabt haben. Aber unsere Gesellschaft, und da schließe ich alle ihre Mitglieder ein, braucht heute weniger die Konfrontation ihrer Bürger, sondern mehr denn je den sachlichen Dialog über die gegensätzlichen Ideen und Meinungen. Es bleibt unser erklärter Wille, das will ich von dieser Tribüne noch einmal erklären, es bleibt unser erklärter Wille, politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen.

Wir lernen, auch die Erfahrungen unserer sowjetischen Freunde und der anderen sozialistischen Bruderstaaten sorgsamer zu prüfen und das, was sich bewährt, schöpferisch unter den nationalen Bedingungen unseres Landes anzuwenden. Mein bevorstehendes Treffen mit dem höchsten sowjetischen Repräsentanten Michail Sergejewitsch Gorbatschow wird den festen Bruderbund zwischen unseren beiden Staaten, dessen bin ich sicher, nicht nur bekräftigen, sondern ihm neue Impulse verleihen und dem vorurteilsfreien Erfahrungsaustausch zwischen unseren Ländern zum gegenseitigen Vorteil dienen.

Die Volkskammer wird mit dem Plangesetz für das bevorstehende Jahr äußerst wichtige Entscheidungen für die weitere Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu treffen haben. An der Vorbereitung dieser Entscheidungen sollte auf neue Weise herangegangen werden, und zwar so, daß die Erfahrungen und Vorschläge der Abgeordneten sowie die Ergebnisse ihrer Diskussion mit den Wählern im Gesetz direkter zur Geltung kommen und Vorschläge für Reformen in Angriff genommen werden können.

Die Stabilität in den Beziehungen der beiden deutschen Staaten ist eine grundlegende Voraussetzung für die Stabilität des europäischen Kontinents. Wir bekennen uns zum weiteren Ausbau der Beziehungen zur BRD auf der Basis des Grundlagenvertrages und sind bereit, die Zusammenarbeit in den unterschiedlichen Bereichen auf eine höhere Stufe zu heben. Was Berlin-West anbetrifft, so sind wir daran interessiert das Erreichte auszubauen und weiterzuführen.

Niemand sollte aus der politischen Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik falsche Schlußfolgerungen ziehen. Die Deutsche Demokratische Republik ist ein souveräner sozialistischer Staat und alles was hier geschieht unterliegt der souveränen Entscheidung unseres Landes und seiner Bürger. Nato-Konzeptionen und Ratschläge, die den Sozialismus bei uns wegreformieren wollen, haben auch künftig keine Chance.