Rhein paradox: Ungereimtheiten im großen Strom

In Mainz trafen sich die Wasserwerker von Basel bis Rotterdam und plädierten für weniger Chemie / Die verbesserte Gewässerqualität des Rheins schafft unvermutete Probleme / Neue EG-Grenzwerte schaffen absurde Konstellation: Kohlendioxid als Pestizid eingestuft  ■  Von Nik Geiler

Mainz (taz) - Trotz - oder gerade wegen - der tendenziellen Reinigungserfolge am Rhein kommen die Chemiker und Mikrobiologen der Wasserwerke immer wieder erstaunlichen Phänomenen auf die Spur. Dies zeigte das Treffen der Rhein -Wasserwerke von der Schweiz bis nach Holland, deren Chefs am Mittwoch und Donnerstag im Mainzer Hotel „Hilton“ mit der Chemie-Industrie, mit Zellstoffwerken und Behörden über den aktuellen Zustand des Rheins debattierten.

Dabei wurde festgestellt, daß die mikrobielle Selbstreinigung im Rhein bei Niedrigwasser deutlich abnimmt. Die Schadstoffkonzentration steigt dann derart an, daß den Bakterien offenbar der Appetit vergeht. Die gestörte mikrobielle Selbstreinigung im Rhein ist paradoxerweise eine Folge der in den letzten Jahren gestiegenen Gewässergüte. Durch den forcierten Ausbau der Kläranlagen entlang der Rheinachse müssen sich die Mikroorganismen zwischen Basel und Rotterdam mehr und mehr mit den schwer verdaulichen Schadstoffen begnügen, die ihnen die Bakterien aus den Kläranlagen übriglassen, und das mißfällt ihnen.

Ganz anders ist zum Beispiel die Situation im Untermain. Der stark verschmutzte Fluß bietet den Bakterien ein so hohes Nährstoffaufkommen, daß sie regelrecht gemästet werden. Wegen des Überangebots an Futter können sie es sich allerdings leisten, die giftigeren Inhaltsstoffe des Mains zu verschmähen.

Die jetzt festgestellte gehemmte Bakterienaktivität im Rheinwasser und in der Uferfiltrat-Passage stellt die Wasserwerke jedenfalls vor erhebliche Probleme. Erklärtes Ziel des Rhein-Aktionsprogrammes ist es nämlich, bis zum Jahr 2.000 bei der Trinkwassergewinnung nur noch mit biologischen Methoden auszukommen. Durch den schwindenden Appetit der Bakterien bei Niedrigwasser wird diese Zielsetzung in Frage gestellt.

Fragwürdig erscheint den Rhein-Wasserwerken noch etwas anderes: der pauschale EG-Grenzwert von 0,1 Millionstel Gramm pro Liter für Pestizide und deren Abbauprodukte. Die Wasserwerker sind aber inzwischen einer ganzen Reihe von Problemstoffen auf die Spur gekommen, die mit den Pestizid -Abbauprodukten chemisch praktisch identisch sind, die aber dennoch nicht unter den Grenzwert fallen. Diese Stoffe, zum Beispiel Chlor-Aniline und Chlor-Phenole, fallen bei einer Vielzahl von chemischen Produktionsvorgängen an. Die Ungleichbehandlung von gesundheitlich gleichermaßen bedenklichen Chemikalien ist nur eine der vielen Ungereimtheiten, die sich für die Rhein-Wasserwerke beim Vollzug der seit 1. Oktober geltenden neuen EG-Grenzwerte ergeben.

Völlig paradox wird es für die Wasserwerker, wenn auch das Kohlendioxid, das uns aus jeder Sprudelflasche entgegenperlt, als Pestizid eingestuft und auf 0,1 Mikrogramm begrenzt werden muß. Kohlendioxid ist aber unter der Nummer 785 von der Biologischen Bundesanstalt als Pflanzenbehandlungsmittel und damit als Pestizid registriert und fällt somit unter den EG-Grenzwert. Dabei enthält selbst das reinste Wasser natürlicherweise mindestens 500 Mikrogramm Kohlendioxid pro Liter. Mit diesem Beispiel unterstrichen die Wasserwerker ihre Forderung, die neuen Grenzwerte differenzierter zu handhaben. Zumindest in diesem Punkt konnten sie des Beifalls der Industrie sicher sein.

Auf weniger Gegenliebe stoßen die Wasserwerke allerdings mit ihrem Verlangen nach einer Verringerung der Chemieproduktion. Mit einer Drosselung der Produktion seien Risiko und Folgen von Chemie-Unfällen am wirkungsvollsten zu begrenzen, wurde argumentiert. Dieser leicht nachvollziehbaren und auch von den Umweltverbänden propagierten These hält die Industrie nach wie vor entgegen, daß nicht eine verringerte Produktion, sondern eine verbesserte Technik die Probleme in den Griff kriegen soll.

Auf schärferen Konfrontationskurs wollen die Rhein -Wasserwerke künftig gegenüber denjenigen Firmen gehen, die sich einer Abwasservermeidung nach dem Stand der Technik verweigern. Hierzu zählt vor allem das Karlsruher Zellstoffwerk „Holzmann“ und die Straßburger Zellstoff -Fabrik „Stracel“. Letztere ist der zweitgrößte Schadstoff -Einleiter Frankreichs und der größte Einleiter der gefährlichen Organo-Chlorverbindungen im gesamten Rhein -Einzugsgebiet. In der Bundesrepublik kommen zunehmend abwasserarme Produktionsverfahren bei der Zellstoffgewinnung zurAnwendung. Aber auch die haben bei den Wasserwerken noch keine Jubelchöre ausgelöst: Sie erlauben nämlich die Verarbeitung von „nachwachsenden Rohstoffen“ zu Zellstoff. Die Rohstoffe aber werden wiederum auf den Großplantagen mit verstärktem Pestizideinsatz gewonnen. Ein bedenklicher Fortschritt, der den geringeren Abwasserausstoß der Zellstoffkochereien womöglich kompensiert.