„Warum sind wir noch hier?“

■ Die Situation des „Chinesischen Nationalzirkus“ kurz vor der Heimreise ist ungewiß

„Nichts sichert den Frieden der Völker besser als das Verständnis für das sogenannte 'Fremde‘....Die Kunst ist im gewissen Sinne der Spiegel der Seele eines Volkes.“ Tian Run Min von der Chinesischen Zentralagentur für Darstellende Künste der VR China, der mit Andre Heller das Programm des Chinesischen Nationalzirkus zusammengestellt hat, wirbt für Einsichten.

Zunächst: Es gibt den Chinesischen Nationalzirkus überhaupt nicht, erläutert die Pressesprecherin Gisela Leimberger. Zum ersten Mal sei es Heller erlaubt worden, „aus dem Vollen zu schöpfen“, und Artisten aus verschiedenen Provinztruppen zu einem Programm zu vereinen.

Der Artistenberuf ist in China ein Lehrberuf. In den einzelnen Provinzstädten existieren Akrobatenschulen, in denen besonders geeignete SchülerInnen mit den Grundlagen artistischer Arbeit vertraut gemacht werden. Die 8-9jährigen Kinder haben sich zuvor in einer Art „Jugend trainiert für Zirkus“ qualifiziert und absolvieren täglich 8 Stunden Training. Im Alter von 14 bis 15 Jahren wechseln sie in die Akrobatentruppen ihrer Provinz, in denen sie mit 21 Jahren einen Abschluß als 'staatlich ausgebildete Akrobaten‘ erhalten. Die Truppe kümmert sich auch nach der Erreichung der Altershöchstgrenze weiter um den Werdegang ihrer KünstlerInnen. Ihnen steht es offen, entweder weiter in ihrem Metier als Chefs, Choreographen oder Trainer zu arbeiten oder die Berufssparte zu wechseln.

War Akrobatik zu Zeiten des mittleren Kaiserreiches ein höfisches Privileg, verlagerte sich diese Kunstform später hin zum Volk. Nach der Revolution 1949 sei die Akrobatik zu vermehrter Anerkennung gelangt, doch das änderte sich zu Beginn der Kulturrevoluton schlagartig. „Die Truppen wurden automatisch kleiner, weil die Unterhaltung nicht mehr im Vordergrund stand. Das Volk sollte keinen Spaß mehr haben, sondern sollte

Akrobatik angucken, wenn sie mit einem politischen Motiv verbunden war“.

Tian Run Mins Karriere scheint das zu bestätigen. Ihm war ein Posten im Kultusministerium sicher. 1968 sei er in den Norden versetzt worden, um Bedienungsanleitungen für Motoren zu übersetzen. 1976 wurde er jedoch zu eben jenem Ministerium zurückbeordert. Seit 1983 ist er bei der 'Chinese Performance Arts Agency‘ angestellt. „Nach den Ereignissen am Tianmen holte ihn seine Agentur nach China zurück. Vor einigen Tagen faxte er uns aus Beijing, er werde jetzt eine Akrobatentour für Finnland vorbereiten. Wir wissen nicht genau, ob das eine Zurückversetzung ist, ob die ihn nicht genau wie 1968 zurückgepfiffen haben, weil er hier zu liberales Gedan

kengut repräsentiert hat. Wir haben alles probiert, daß er hierbleiben konnte, aber es kam keine Begründung.“

Die Ereignisse auf dem Tianmen sind nicht ohne Auswirkungen auf die Tour des Nationalzirkus geblieben. Das Artistenteam, viele von ihnen sind erst 16 bis 18 Jahre alt, zeigte überhaupt keine Reaktionen. „Wir hatten zu Anfang bei den Nummerngirls ein Militärkostüm dabei, das hat Heller sofort ausgewechselt. Die Presse hat zwar geschrieben, daß das von den Chinesen kam, aber dann wäre die Hölle losgewesen. Heller hat versucht, die Tournee zu verlängern, damit die Truppe nicht Repressalien unterworfen wäre, wenn die Tour vorzeitig abgebrochen worden wäre. Er ist sofort nach dem Massaker in Beijing auf die Straße gegangen, hat

eine Petition unterschrieben und mir ein Statement diktiert, das ich an Presse und Publikum verteilt habe.“ Vier Wochen hörte das Unternehmen nichts aus China.

„Wir wissen bis heute nicht, warum dieser Zirkus noch hier ist“, erklärt Leimberger. Das rettende Signal kam bei der Premiere in Hamburg. „Da kamen auf einmal dreißig Botschafts -und Konsularvertreter. Da waren die größten Tiere da, saßen in der ersten Reihe. Das war das offizielle Zeichen zum Weitermachen. Jeder Tag, den wir gewinnen, ist ein Tag mehr in Richtung Entschärfung der Lage. Ich schätze das so ein, daß jeder einzelne hinterher ganz intim befragt wird, ob sie in den Truppen dann weiterarbeiten dürfen. Das wissen die alle, deshalb sagen sie nichts. Sie kriegen den Druck von ihren Chefs mit, mit uns reden sie gar nicht darüber.“ Die offizielle Zusammenarbeit mit dem Chinesischen Kulturministerium ist von Heller jedenfalls aufgekündigt worden, und doch war die Bremer Premiere bereits die 260. Vorstellung. Jürgen Francke, an