Eine halbe Million auf Leipzigs Straßen

Die Hochburg der „Deutschen Demonstrierenden Republik“ / Das Neue Forum organisiert die Massen / Kritik an der SED-Dialogstrategie / Neue „Demonstrationskultur“ in Leipzig  ■  Aus Leipzig Wolfgang Dore

Der schönste Spruch: „Wir GEHÖRGESCHÄDIGTEN brauchen UNTERTITEL: FREIHEIT & MACHT“. Subtiler kann man sie kaum abfertigen, die teutonische Dialogwalze, mit der die SED gegenwärtig das DDR-Volk überollen will. Ein Transparent unter unzählig vielen. Die Massen von Leipzig. 300.000 hatte die Aktuelle Kamera gezählt, 500.000 wurden geschätzt.

Am Demonstrationsmontag von Leipzig war die gesamte Altstadt von Demonstranten umzingelt. Als die Spitze des Zuges wieder am Karl-Marx-Platz ankam, waren noch Hunderttausende auf dem Platz, die seit eineinhalb Stunden darauf warteten, endlich abzumarschieren. „Deutsche Demonstrierende Republik“.

Es waren soviel Menschen, daß die kleine Rednergruppe des Neuen Forums gar nicht begriff, daß sie nicht nur zum Ende des Zuges, sondern auch schon wieder zu dessen Anfang redete. Die Massen wiederum begriffen nicht, daß der Oberbürgermeister am selben Platz auch eine Rede hielt. Erst aus der Aktuellen Kamera erfuhren sie, daß er ausdrücklich das Neue Forum als Gesprächspartner anerkannte. Kein schrillerer Gegensatz ist denkbar zwischen diesem Erlebnis der Massen, der befreiten Öffentlichkeit und „ihrer“ Organisation: Das Büro des Neuen Forums liegt auf der anderen Seite des Mondes, in Leipzig-Lindenau.

„Wir kommen nicht

mehr nach“

Eine nachtdunkle Straße, verfallende Häuserzeilen, das ausgestorbene Operettentheater. Die Büroräume: düsteres Treppenhaus, ein tristes Sperrmüllarrangement. An die Wände geheftet die Papiere der verschiedenen Organisationsansätze: „Demokratischer Aufbruch“, „Böhlener Plattform“ etc. Computerausdrucke, Termine von Arbeitsgruppen und Kommissionen von Volksbildung bis zur Wirtschaftsreform. Alles zeugt von fliegender Hast. „Wir kommen nicht mehr nach, die Adressen der neuen Mitglieder in den Computer zu geben.“

Im Stockwerk drüber lebt Falk Hocque, seit einer Woche aus dem Gefängnis, inzwischen macht er das Büro hauptamtlich. Die große Sorge ist, daß die SED mit ihrer Dialogwalze und mit Gremienangeboten ihre Sachkompetenz aufsaugt, ihre Vorschläge auf die eigenen Fahnen schreibt. Die dauernde Betonung des basisdemokratischen Anspruchs ist daher plausibel: Es soll verhindert werden, daß die SED einen Keil zwischen Führung und die Massen treibt, daß die kompetenten Leute in die Gremienarbeit und die ganze kommunale Problematik verwickelt werden.

Noch vor zwei Wochen suchten die Leute das Neue Forum. Jetzt gibt es eine regionale Struktur mit Sprecherrat, eine große Liste von Verantwortlichen, die die Arbeitskreise leiten. Der programmatische Druck ist enorm. Hocque betont, daß auch die anderen oppositionellen Gruppen sich unter den Schirm des Neuen Forums stellen werden. „Wir sind mit der Organisation soweit, daß Leipzig für die DDR zum Zentrum des Neuen Forums werden soll.“ Das sei auch die Meinung in Berlin. Die ersten zwei Ausgaben eines Rundbriefs, Vorgriff auf die „eigene Zeitung“, sind erschienen.

Wenn man die schäbigen Räume sieht, die jungen Leute, die vor der Demonstration noch hastig ein Transparent malen, ist die Organisationskraft kaum glaubhaft, noch weniger glaubhaft ist der Organisationsanspruch. Diesmal wolle man die Demonstration gezielter leiten. Die „Demonstrationskultur soll angehoben werden.“ Geplant ist die Organisation der ersten Reihe, die Menschenkette vor dem Stasi-Gebäude, Reden während der Demonstration.

Die kleine Rednergruppe, zwei aus dem Sprecherrat, zwei, die, in Plastiktüten versteckt, die beiden einzigen Megaphone tragen, ziehen am „Ring“ entlang, um den die Massen wogen. Demonstrationskultur anheben? Das mutet, prima vista, so absurd an, als wollte eine Handvoll bärtiger Landfreaks aus den 70er Jahren die zentrale Kundgebung des DGB zur 35-Stunden-Woche leiten. Aber das Verblüffende: Diese Handvoll organisiert die Massen.

Kaum ertönt der erste Satz: „Hier spricht das Neue Forum“, brechen die Leute jubelnd aus dem Zug aus und versammeln sich um den Redner. Dabei redet niemand direkt zu den Massen, sondern es wird lediglich der Text des Neuen Forums vorgelesen. Das basisdemokratische Zeremoniell wird streng beachtet: „Im Auftrag des Sprecherates sprach Jochen Läßig.“ „Zugabe, Zugabe“, rufen die Leute. Wollen selber reden. Ein alter Arbeiter heult fast: „Ich will zu meinem Volk reden.“ Aber die bärtige Vorlesergruppe huscht schon, die Megaphone wieder in den Plastiktüten, zum nächsten Ort. Die Forderungen, die da verlesen werden, sind klar, unterscheiden sich von den jüngsten Erklärungen Bärbel Bohleys und Henrichs, die den Führungsanspruch der SED nicht mehr direkt in Frage stellen wollten. „Schluß mit dem Führungsanspruch einer Partei, die sich nicht in freien Wahlen legitimieren läßt.“ „Schluß mit dem Obrigkeitsstaat, der die breiten Massen zu Bittstellern degradiert.“ Volksentscheid wird gefordert, wie in der Verfassung von 1949; ein neues Wahlgesetz, Aufstellung eigener Kandidaten; Nennung der Schuldigen für „die Krise in unserem Land“. Großer Beifall. Den größten Jubel aber gab es bei den Sätzen: „Bürger, laßt euch nicht kaufen durch besseren Konsum und Reisefreiheit. Reisefreiheit ist ein unveräußerliches Menschenrecht, das niemand als Gnade gewähren kann.“ Hier setzten sofort wieder die Wir-bleiben-hier Rufe ein.

Aber nicht nur dies war ein Zeichen dafür, wie bewußt die Massen von Leipzig zu den jüngsten Maßnahmen der SED Stellung nahmen. Es waren nicht nur mehr Menschen als das letzte Mal. Sie äußerten sich auch mehr, witziger, härter. „Jetzt oder nie - Demokratie“, „SED - das tut weh“, „Die Vorhut ist hinter uns her“, „Egon, laß das Forum zu, sonst kriegst du keine Ruh'“. Aber auch: „Freiheit für die CSSR“. Bissig, wütend, ironisch wurden die Massen am Stasi-Gebäude: „Stasi in den Tagebau“. Und - das war überhaupt Parole am Schluß - „Wir kommen wieder“, am nächsten Montag.