Das indiskrete Kleinod

■ Über „Sex, Lügen und Video“ von Steven Soderbergh

Thierry Chervel

Baton Rouge ist in Dierckes Weltatlas als kleiner roter Punkt verzeichnet: Es liegt in Louisiana, hundert Kilometer nordwestlich von New Orleans. Daß dies der Ort der Handlung ist, erfährt man allerdings nur aus dem Pressematerial, im Film wird nicht einmal sein Name erwähnt. Es gibt auch praktisch keine Außenaufnahmen, die ein näheres Bild davon geben. Der Film spielt innen, in der amerikanischen Innenwelt, in irgendeiner Stadt mit 100.000 bis 250.000 Einwohnern.

John ist ein aufstrebender Rechtsanwalt, er trägt weißes Hemd und Hosenträger. Dahinter hakt er seine Daumen ein und stemmt sich breitbeinig in den Fußboden, ein Protz. Die schöne, aber verkrampfte Ann ist seine Frau. Sie hütet das eheliche Haus, läßt John nicht an sich ran und besucht darum eine Psychotherapie. Sex erscheint ihr lächerlich, zumal angesichts des Hungers in Äthiopien und drängender Umweltprobleme. John betrügt Ann mit ihrer jüngeren Schwester Cynthia. An Cynthia ist alles dunkel, besonders ihre Stimme. Sie raucht, malt und arbeitet in einer Kneipe. Das Verhältnis zwischen der ahnungslosen Ann und der frivolen Cynthia war immer schon gespannt.

Da kommt Graham. Experiment

Graham ist impotent. Genauer: Graham - ein alter Freund von John, der neun Jahre lang nicht in der Stadt war - ist blond, leise und freundlich, himmelblauer, unverwandter Blick. Er trägt ein schwarzes Hemd zu seinen Blue Jeans, was in einer amerikanischen Stadt mit 100.000 bis 250.000 Einwohnern schon als Existenzialistenkluft gilt. Graham ist „seltsam“, ein Mann, der den Frauen zuhört, weil er eine direkte Beziehung mit ihnen nicht eingehen kann. Darum macht er Bilder, Videos, in denen er die Frauen über ihre Sexualität interviewt, aus denen er sich aber strikt raushält, selbst wenn sie ihn gern drin hätten.

Er ist kein Voyeur, denn anders als ein Voyeur, der seinen Blick kaschiert, macht er aus seiner Perversion keinen Hehl. Er ist ein Projektionist, einer der sich ins Bild nicht einfügen kann - es wäre nicht mehr scharf.

Durch Grahams Ankunft, die in den ersten Bildern des Films gezeigt wird, komplettiert sich das Dreieck Ann-John-Cynthia zum Viereck. Die weiteren Personen des Films - Anns Therapeut, der Gast in Cynthias Kneipe - bleiben peripher, als wären sie nur da, um zu zeigen, daß die Außenwelt, wenn es in Beziehungen arbeitet, kaum tangiert.

Die Frigide, die Frivole, der Protz und der Projektionist: eine Konstellation von fast laborhafter Künstlichkeit, so genau, komplementär und symmetrisch sind die sexuellen Süchte und Ängste zugeordnet, genauer als es in der Natur vorkommt.

Der Film macht ein Experiment. Er versucht nachzuzeichnen, was passiert, wenn man die vier zusammentut. Er untersucht die Konstellation auf ihre Statik, Verwerfungen und Dynamik. Die Konstellation ist natürlich instabil. Aktiv wird sie in der Beziehung zwischen den beiden Passiven. Die ängstliche Ann wird zum sexuellen Subjekt an Graham, der vergessen hat zu bedenken, daß ein Projektionist sich auch als Projektionsfläche eignen könnte. Ann wird die Kamera herumdrehen.

Von Anfang an ist die Beziehung zwischen Ann und Graham privilegiert. Sehr schnell wird deutlich, daß in ihr die Sprengkraft liegt und worauf es zwischen den beiden hinausläuft. Aber der Film resümiert sich nicht in Anns Partnerwechsel. Ihm geht es um die Verschiebung innerhalb der gesamten Konstellation, zu der mehr als zwei gehören, um das Spiel der Kräfte, die einzelnen Momente des Prozesses, nicht das Ergebnis. Spannung

Ein Beziehungsviereck setzt sich zusammen aus vierzehn kleineren Beziehungen - den Selbstbeziehungen der vier Personen, den sechs Zweierbeziehungen, zu denen sie sich kombinieren lassen: Graham-Ann, Ann-Cynthia, Cynthia-John, John-Graham, Graham-Cynthia, John-Ann, und den vier Dreiecken, die sie bilden können: John-Cynthia-Ann, Cynthia -Ann-Graham, Ann-Graham-John, Graham-John-Cynthia. All diese Facetten des großen Vierecks werden mitgedacht im Film, alle haben ihr eigenes Kräfteverhältnis und Potential an Liebe und Haß, mal blitzt im hellen - aber nicht harten - Licht und den wechselnden Perspektiven des Films die eine auf, mal die andere, und immer werden sie von sehr nahem gezeigt.

An keiner Szene sind alle vier Personen zugleich beteiligt, und nur ein einziges Mal, beim Abendessen von Ann, John und Graham, kurz nach Grahams Ankunft, sind sie zu dritt. Sonst sind sie allein oder zu zweit. Die größeren Konstellationen sind die Resultanten der einzeln ausgeloteten Zweierbeziehungen und müssen gewissermaßen vom Zuschauer selbst errechnet werden. Der Film geht von Szene zu Szene, von Dialog zu Dialog, setzt sie gegeneinander und spielt sie beiläufig gegeneinander aus. Er sammelt Daten und Anhaltspunkte. Der Zuschauer macht sich ein Bild daraus.

Auch innerhalb der Szenen wechselt der Film sehr oft die Perspektive. Es fällt auf, daß es keinen einheitlichen Kamerastandpunkt gibt. Mal hängt die Kamera unter der Decke, mal blickt sie von unten nach oben, einmal legt sie sich sogar quer, mal schwenkt sie, mal umkreist sie die Personen, mal steht sie fest, mal fährt sie auf die Personen zu. Dies ist allerdings kein selbstgenügsamer Expressionismus des Bildes, sondern wiederum die Geste des Experimentierens. Die Kamera sucht ihren Standpunkt, sie hat ihn nicht einfach. Aber sie vergißt nicht, worum es ihr zu tun ist: Ann-Cynthia -John-Graham, ihr Verhältnis zum Raum, zu den Dingen, zueinander.

Die Kamera blickt wie Graham: aufmerksam, unersättlich einerseits, detailversessen, aufmerksam aber auch im Sinne der Höflichkeit. Sie hat einen Rhythmus. Sie schlägt den Blick auf, und sie senkt ihn, dort wo sein Gegenstand sich sonst vor ihm verschließen würde. Ellipse

Darum ist die filmische Erzählung im einzelnen, wie die Konstruktion des ganzen Films, elliptisch. Der Film zeigt Cynthias Irritation, als sie Graham nach dem Videointerview verläßt, Johns falsches Lachen, das seine Angst vertuschen soll, als Cynthia ihm nach einem ihrer Treffen sagt: „Du kannst jetzt gehen“, Anns Panik, als Graham ihr erklärt, worum es in seinen Videos geht, ihre latente Sinnlichkeit ab und zu trägt sie das Haar offen -, ihr langsames und gründliches Erbleichen und Begreifen, als sie beim Staubsaugen Cynthias Ohrring findet und damit den Beweis, daß John sie betrügt. Er zeigt, wie der Ring des Fürsten Mangogul in Diderots Bijoux indiscrets, daß etwas ständig redet, in Blicken, Worten, Gesten, Haartracht, Blumen, Wohnungen, gewunden oder direkt, stockend oder haltlos, aber meistens unbemerkt: das Geschlecht. Das eine zeigt er nicht.

„Sex, Lügen und Video“, von Steven Soderbergh, mit Andie MacDowell, James Spader, Laura San Giacomo, Peter Gallagher, USA 1989, 101 Min.