Die Wahrheit ist nicht zumutbar

■ Zu den neuesten deutschen Filmen auf den diesjährigen Hofer Filmtagen

Christiane Peitz

Hof, Ende Oktober 1989. Familie Dudkoviak hat sich angekettet. Vor der Marienkirche, mitten in der Fußgängerzone. Sie kommen aus Polen und sollen wieder zurück: keine Arbeit, keine Aufenthaltsgenehmigung. Aber sie wollen hierbleiben. Oder nach Amerika auswandern. Deshalb sitzen sie am Kircheneingang und fordern Asyl. Auf selbstgeschriebenen Schildern, in gebrochenem Deutsch.

Ein alter Mann bringt ihnen was zu essen. Die Hofer sind empört. Die hätten sich doch nur da angekettet, weil gerade soviele Journalisten in Hof sind, wegen der Filmtage. Und außerdem seien die in Wirklichkeit gar nicht arm, das Auto von denen stünde um die Ecke. Erregte Debatten von morgens bis abends. Bei den vielen DDRlern käme es auf drei Polen auch nicht mehr an. Ein Hofer Familienvater beschwichtigt zwei alte Damen. Die Polen würden doch niemanden stören, und ein Recht hätten sie auch, und überhaupt wären wir alle gleich. „Aber wenn jetzt jemand in die Kirche will...“, widersprechen die beiden. Auf der andern Straßenseite steht ein Schild: „Tauben bitte nicht füttern. Tierliebe kann auch zu weit gehen.“ Bisher war es mir nie aufgefallen.

BRD 1989. Franz S. ist über siebzig, seit über vierzig Jahren sitzt er in der Psychiatrie. Schon in der Nazizeit galt er als Verrückter, das Euthanasieprogramm überlebte er wie durch ein Wunder. Sein Fall: Er will fliegen. Deshalb konstruiert er Flugmaschinen, schreibt über die Schwerkraft, malt und zeichnet Pläne. Er hat nie jemandem etwas getan. Der Mann sitzt bis heute in irgendeiner Verwahranstalt.

CSSR 1989. Hunderte werden in Prag verhaftet. Der Schauspieler Pavel Landovsky lebt schon länger im Exil. Früher ein Star, wurde ihm infolge des „Prager Frühlings“ die Staatsbürgerschaft aberkannt. Seine Biographie liest sich wie ein Krimi.

Harald Kempe ist Portier in einem Berliner Hotel. Er ist jung, sieht aus wie höchstens 25. Auf dem Bauch hat er eine riesige Narbe. Am letzten Abend, auf der traditionellen Filmtage-Fete, reden alle über die Narbe. Messerstecherei, aufgeschlitzt, die Phantasien wuchern. Kempe, einer der Laienhauptdarsteller in Heiko Schliers Wedding, ist der Star des Tages.

Das sind wahre Geschichten - genug Stoff für spannendes Kino. Aber auf der Leinwand ist nichts davon zu sehen. Zwar hat Oliver Herbrich die Geschichte des Franz S. verfilmt, sogar mit Dokumentaraufnahmen von NS-Medizinern. Aber die Wahrheit hielt er wohl nicht für zumutbar. Um seinen Franz S. kümmert sich ein aufgeschlossenes Psychiaterpärchen, das ihn aus der Anstalt holt und ihn seine Flugmaschinen bauen läßt. Der Film Erdenschwer macht aus der Geschichte des Franz S. ein Märchen und sorgt sich letzlich mehr um die moralischen Bauchschmerzen des Anstaltsleiters Dr. Frank (Rüdiger Vogler), inklusive persönlicher wie beruflicher Sinnkrise. „Ich soll hier wohl der Irre zum Vorführen sein“ - Franz Seeligers Kommentar zur Antrittsvorlesung des Doktors trifft auch auf Herbrichs Film zu: Nicht einmal im Presseheft teilt der Regisseur uns mit, ob der wirkliche Franz S. genauso heißt oder anders, wo er lebt und wer seine Verwahrung zu verantworten hat.

Ähnlich ist es mit Maria Knillis Follow me: Zwar hat sie einen Film über Emigration gedreht, mit dem Emigranten Landovsky in der Hauptrolle, aber Über das Leben im Exil erfahren wir nichts, außer daß es traurig ist (siehe „Bebilderte Schrift“).

Harald Kempe spielt in Wedding den Hilfsarbeiter Sulavski. Ein Prolet mit Berliner Schnauze, frech, aggressiv, liebenswert. Wedding erzählt von den Kindern der 80er Jahre, von Markus, dem Jungpolizisten, Susanne, der Ehefrau und Verkäuferin bei Möbel Hübner, und von Sulavski, der Bullen und Ehefrauen nicht ausstehen kann. Drei Schulfreunde, die sich nach fünf Jahren wiedertreffen, einmal noch für eine Nacht. Nichts Besonderes, ein belangloses Fernsehspiel wie die meisten neuesten deutschen Filme in Hof. Der Unterschied zu Follow me und Erdenschwer: Es hat keine drei bis fünf Jahre gedauert, bis er zustande kam; die Dreharbeiten begannen elf Wochen vor der Premiere in Hof. Wedding ist ein kleiner, schneller, amüsanter Billigfilm, und das macht ihn zur Ausnahmeerscheinung unter all den schwerfällig bemühten Produktionen, denen man die bürokratischen Anstrengungen um Förderungsgelder und TV-Kooperationsverträge förmlich ansieht.

Wedding kümmert sich auch nicht weiter um die politisch -kritische Message. Auch das ist bei deutschen Filmen, die schon immer gerne recht hatten, eine Seltenheit. Zumal die Rechthaberei oft in ihr Gegenteil umschlägt. Niklaus Schillings Der Atem handelt von den Gefahren der Computerisierung, aber erliegt dabei selbst der Faszination flimmernder Bildschirme. Und der Atomboß in Geissendörfers Anti-WAA-Film Bumerang Bumerang ist im Vergleich zu den netten Kids, die ihn entführen, die ungleich lebendigere Figur: eins zu null für das Ekelpaket.

In Someone to love, ein Film des Amerikaners Henry Jaglom, dem die diesjährige Retrospektive gewidmet war, tritt Orson Welles auf. Es ist der letzte Auftritt vor seinem Tod. Er sagt: „Filmemachen dauert zu lange. Bis eine Idee tatsächlich ins Kino kommt, braucht es Jahre, und die Idee ist längst tot.“ Vielleicht ist es das: Der „Fall Dudkoviak“ ist im Hofer Kino frühestens 1992 zu sehen.

Einzige Ausnahme, wie gesagt: Wedding, nicht genial zwar, aber wenigstens schnell.

Auffällig jedenfalls ist das Immergleiche. Minister und Polizeipräsidenten sehen in deutschen Filmen immer aus wie Hans-Michael Rehberg. Rechtsanwälte und Ärzte sehen aus wie Hark Bohm, Direktoren wie Alfred Edel. Stereotypen. Der Rest ist gesichtslos. Die Protagonisten sind in der Regel kreative Menschen, Musiker, Schauspieler, Malerinnen. In den WGs herrscht die notorisch arrangierte Unordnung, die Bettwäsche bei den Besserverdienenden ist neuerdings bundesweit aus Seide, und wenn gegessen wird, dann bitte mit Kerze und gestärkten Servietten. Ich habe in drei Tagen zehn bundesdeutsche und deutschsprachige Filme gesehen: Es war immer derselbe.

„All stories have to do with men and women. It's universal and eternal“, sagt Orson Welles in Someone to love. Es ist einer seiner letzten Sätze. Er sitzt in einem schönen, alten Theater, hinten, „auf den billigen Plätzen“, und schaut zu. Henry Jaglom hat in dieses Theater zu einer Party eingeladen. Männer und Frauen, die alleine sind, und ein Filmteam dazu. Nun interviewt Jaglom die Singles vor laufender Kamera. Sie erzählen, warum sie alleine sind. Manche waren mal verheiratet, manche wollten das noch nie, manche sind verlassen worden. Glücklich ist keiner. Die meisten sind unsicher vor der Kamera, zögern oder schweigen. Aber dann erzählen sie doch, irritiert und stockend. Allmächlich wird man vertraut mit ihrem nervösen Mienenspiel, ist schließlich selbst verwirrt von soviel Nähe. Someone to love - ein typisch amerikanischer Film über die Liebe: Es wird fast nur geredet. Aber man sieht dabei - wie auch in Steven Soderberghs Sex, Lies and Videotape - mehr auf den Gesichtern, sieht im Zucken der Mundwinkel, im unterbrochenen Satz, im ausweichenden Blick mehr von Erotik und Intimität als bei allen Leinwandküssen dieser Welt.

„You kiss so much in this country, for no reason“, wundert sich eine Jugoslawin auf Jagloms Party. In den neuesten deutschen Filmen wird viel geküßt. Aber Leidenschaft ist nicht der Grund. Letztes Jahr ging es in Hof noch turbulent zu. Es gab RobbyKallePaul, Pia Frankenbergs Brennende Betten, Pizza Express und Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Lauter Komödien über die Liebe, den Betrug und die Eifersucht. Dieses Jahr herrscht Ruhe. Der Computerexperte in Niklaus Schillings Der Atem ist verheiratet und geht fremd. „Das ist doch nicht schlimm“, sagt seine Ehefrau. Zwei Männer konkurrieren um eine Frau, in Geissendörfers Bumerang genauso wie in Heiko Schiers Wedding: Ihrer Männerfreundschaft tut das keinen Abbruch. Keine Krise, nur Kumpanei. Und Rainer Boldt macht aus Patricia Highsmith‘ Eifersucht-Doppelmord in Der Geschichtenerzähler eine harmlose Szene auf Sylt. Jeder Tatort ist spannender.

1989 ist man nett zueinander im neuesten deutschen Kino. Man schlägt sich nicht mehr, man ist zusammen und verträgt sich. Wohlerzogen sagen die Schauspieler brav ihre Sätze auf, nie verspricht sich einer, nie reden zwei gleichzeitig. Kein Stocken, kein Zögern, keine Irritation: Die Wahrheit ist nicht zumutbar. Und ab und zu geht man ins Bett miteinander. Das Spiel zwischen Mann und Frau, der Kampf zwischen den Geschlechtern - die wenigen Filme, in denen überhaupt etwas davon zu sehen war, kamen aus Amerika. Vor allem in Soderberghs Sex, Lies and Videotape und in Jim Jarmuschs aufregend unterkühltem Mystery Train. In Filmen, die hierzulande jetzt sowieso ins Kino kommen; sie brauchen kein Festival in Hof.

Keine Entdeckung also und keine Sensation. Von wegen Krise: Pünktlich zm Ende des Jahrzehnts hat sich der bundesdeutsche Film zur Ruhe gesetzt.