Peronismus ohne Antwort

In Argentinien: Krise der nationalen Volksbewegung  ■ W I R T S C H A F T S V E R H Ö R

Interview mit Ernesto Villanueva, Professor für Soziologie an der Universität von Buenos Aires, früheres Mitglied der Gruppe der Montoneros-Guerilla. Er saß dafür während der Militärherrschaft sieben Jahre lang im Gefängnis und zählt sich heute zu den Linken innerhalb des Peronismus.

taz: Seit Menem an der Regierung ist, macht er ziemlich exakt das Gegenteil dessen, was er früher propagiert hat. Während der Regierung Alfonsins hatte Menem ein Moratorium gefordert und sich den Privatisierungsplänen widersetzt. Woher der Kurswechsel?

Villanueva: Ich glaube, es sind zwei Dinge, die das erklären. Einmal die Ereignisse im Februar und März dieses Jahres. Da hat sich so etwas wie ein ökonomischer Putsch ereignet, in dem klar wurde, daß nicht die Regierung die zentralen ökonomischen Variablen kontrolliert, sondern eine Gruppe von Unternehmen. Die sechs führenden Exportunternehmen hatten sich entschlossen, ihre Dollareinnahmen nicht ins Land zurückzuführen. Und die Regierung Alfonsins stürzte ohne Militärs auf der Straße, ohne Schüsse, sie stürzte einfach. Der Wahlkampf fand in einer fürchterlichen ökonomischen Krise statt. Um an die Regierung zu kommen, hatte Menem zwei Möglichkeiten: mit diesen Herren zu verhandeln oder sich mit ihnen anzulegen. Um eine Konfrontation mit diesen Herren durchzustehen, braucht man aber politische und organisatorische Voraussetzungen, über die Menem nicht verfügte.

Der zweite Punkt betrifft die Konzeption, die Vision des Peronimus. Es gibt heute nicht nur in Argentinien, sondern weltweit eine Krise der nationalen Volksbewegungen. In Argentinien hatte sich der Peronismus auf ein Modell festgelegt, das heute sehr stark in Frage gestellt ist: eine am Binnenmarkt orientierte Entwicklung, die sich an der Nachfrage und nicht am Angebot orientiert, ein großer staatlicher Sektor als Motor der Entwicklung. Der Peronismus hat es nicht geschafft, sich in einer veränderten Situation neu zu orientieren. Er hat für die heutige internationale Situation keine Antworten.

Jetzt fällt er ins Gegenteil...

...weil seine Konzepte nichts mehr taugen. So kauft er die, die gerade auf dem Markt sind und die ihm am attraktivsten erscheinen.

Warum wird Menems Politik auch noch von einem Teil der Gewerkschaften unterstützt?

Das Problem hier ist nicht Menem. Als Traica noch nicht Arbeitsminister war, hat er einmal gesagt: „Ich bin für soziale Gerechtigkeit. Aber damit es in Argentinien langfristig soziale Gerechtigkeit geben kann, müssen zehn Millionen Argentinier verhungern. Sonst wird es uns allen immer schlechter gehen.“ Das ist heute die Konzeption, nicht nur von Menem, sondern von einem wichtigen Teil der peronistischen Führung und der argentinischen Gesellschaft.

Was wird jetzt in der peronistischen Linken diskutiert?

Die argentinische Gesellschaft glaubt zur Zeit, daß der staatliche Sektor hier ein einziger Unfug ist. Das Schlimme ist: Er ist es tatsächlich. Sollen wir das vielleicht verteidigen? Wir konzentrieren uns auf Vorschläge, die mehr Partizipation für die Arbeiter und eine Stärkung der Basisorganisationen ermöglichen, denn genau das fehlt in diesem Land, und hier liegt die tiefere Ursache der Niederlage, die wir in diesen Jahren erleben.

Interview: Gabriela Simon