Die „selbstverschuldete Unmündigkeit“

VII. Philosophiekongreß der DDR in Ost-Berlin beendet / Philosophen wollen am Aufbruch teilnehmen Unabhängige Meinungsforschung und autonome Philosophenorganisationen gefordert  ■  Aus Ost-Berlin Wolfgang Dore

Mit der Einübung in Demokratie („War das jetzt auch wirklich basisdemokratisch“) und mit einer Flut von Betroffenheitserklärungen und Forderungen endete gestern der VII. Philosophiekongreß der DDR. Er sollte erst wegen der „Ereignisse“ verschoben werden, aber am Schluß waren alle Teilnehmer dankbar, daß das nicht geschah. In den Berichten der elf Arbeitsgruppen wurde immer wieder betont, man habe auf vorbereitete Beiträge verzichtet, die Diskussion sei kontrovers, lebendig, offen gewesen. Ein Arbeitsgruppenbericht wurde kurzerhand abgelehnt: der „ungebrochene Mut zur Allgemeinheit“ sei ein „Skandal“. Konkret wollte man sein: „Der Dialog darf kein Instrument sein„; weg mit dem „Vervollkommnungsbegriff“ („Die Zukunft muß wieder die Negation der Gegenwart sein“). Führungsanspruch vielleicht für die Arbeiterklasse, nicht aber für die Partei; Verzicht auf die heroische Vergangenheit („Jede Generation schafft sich ihre eigene Identität“). Nicht-marxistische Entwicklungen in der Philosophie gelte es aufzuarbeiten („keine bloße Abgrenzungen mehr“); gegen die „bloße Beschwörung der Einheit von Ökonomie und Ökologie“ sei man; Die Umweltpolitik gehöre in den Rang von Sozialpolitik (statt dem „schwarzen Kanal“ jetzt ein „grüner“ Kanal - großer Beifall); „Querdenken ist die wichtigste Produktivkraft„; Demonstrationsgesetz; unabhängige Publikationsmöglichkeiten; Kritik, Kritik und Selbstkritik - eine kurze Summe der Arbeitskreisberichte.

Tiefe Betroffenheit darüber, wieweit die „Gängelei“ gegangen sei; die „selbstverschuldete Unmündigkeit“. Die Stalinismusdiskussion muß erst noch geführt werden. Die letzten Wochen bedeuten „eine Niederlage unserer sozialistischen Bewegung“. Das fordernde „Was tun“ im Raum scheuchte die Köpfe auf. Prof. Gerlach verwies darauf, daß das „Erkenntnispotential der bürgerlichen Wissenschaften“ unterschätzt würde, vor allem die Philosophen der Post -Moderne dürften nicht mehr bloß als irrational abgefertigt werden. Gerlach war es auch, der endlich die „Aufarbeitung des Erbes von Walter Benjamin verlangte“. Wie dessen Berliner Nachlaß behandelt worden ist, sei eine „Kulturschande“.

In der Arbeitsgruppe „Technisch-wissenschaftliche Entwicklung und Fortschritt“ war es ausgerechnet ein „Militärphilosoph“ - der Uniform nach ein Oberst - der sich am radikalsten äußerte. Mit beinahe existentiellen Furor wandte er sich gegen die Ablehnung des Begriffs der Kollektivschuld angesichts der „gegenwärtigen Krise“: „Wenn wir über den Gegner reden, dann haben wir keine Schwierigkeit, über die Schuld eines kollektiven Subjekts zu reden. Beim Verrat der Bourgeoisie an den humanistischen Idealen lassen wir die Berufung auf den Befehl nicht zu.“ Aber bei uns ist das „seltsam anders“. Die „großen Wendepolitiker“ rechtfertigen alles mit dem Zwang von vorher. Aber: „Ich habe mich auch zwingen lassen“! Jetzt gibt es die „Flucht ins anonyme Wir; Harry Tisch sagt, die Gewerkschaft is nicht an allem schuld, die Lehrer sagen, der Verband ist nicht an allem schuld.“ Damit wären schon zehn Millionen Menschen aus dem Spiel.

Viele dieser radikalisierten Fragestellungen gab es, aber es wurde nicht gefragt. Bei beiden Gesprächsthemen Eigentum und Individuum stand die Frage der Demokratie im Vordergrund. Aber der Begriff der Demokratie schwankte ungeprüft zwischen einem geschmeidigeren Mittel zur Produktionssteigerung bis hin zur Demokratie der Andersdenkenden hin und her. Das „sozialistische Eigentum“ wurde als unausgeschöpfte Potenz definiert; andere interessierte mehr, „daß in diesen Tagen Menschen massenhaft von ihrem Eigentum weglaufen“.

Hilflose Einigkeit herrschte bei der Feststellung des Soziologen Dohnke, daß „wir uns mit dem Begriff des Individuums schwer tun“. Wenigstens wurde ein anderer Begriff von öffentlicher Meinung gefordert. Prof. Schubert erklärte, die Parteilinie könne nun nicht mehr die öffentliche Meinung sein (sie hat sich leider als rückständig erwiesen). Aber auch die veröffentlichte Meinung - trotz der jetzigen Kritischen Haltung der Medien - sei nicht öffentliche Meinung. „Die Straße“ zähle auch. Konkrete Forderung hier wie in anderen Arbeitskreisen: ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut, dessen Ergebnisse auch öffentlich zugänglich sein müssen. Die Unzufriedenheit mit der Diskussion blieb. Genosse Unger („Ich bin kein Philosoph, sondern nur Parteisekretär in Leipzig“) fragte: Wo bleibt die philosophische Kategorie des „Andersdenkenden“? „Wie kann es einen Dialog geben, wenn andere nicht anders denken?“

Immerhin gab es bedenkenswerte neue Daten aus einer Umfrage in einem Kombinat in der letzten Septemberwoche. Lilo Steitz (Abt. Gesellschaftswissenschaft der Akademie) berichtete. Frage war, wieweit sich Arbeiter an Entscheidungsprozessen beteiligt fühlen - „kaum“ beteiligt fühlen sich auf der Arbeitskollektivebene 38,8 Prozent; auf der Betriebsebene schon 82, im Territorium 84,5 und in der Gesellschaft 90,1 Prozent. (Diese erschreckenden Daten wurden bislang nicht veröffentlicht.) Die Interpretation war kontrovers. Die einen werteten es als „Ausdruck von Resignation„; die anderen als Mangel an Demokratie. Kurzum: Demokratie wurde gefordert für die LPGs, für die Produktion, für die „Stimulation“ und auch für die Freiheit des Andersdenkenden.

Das Bewußtsein, daß Philosophen „nicht gerade an der Spitze des Aufbruchs stehen“, überschnitt sich mit der Angst vor dem Rückfall, der Sorge, daß es an Institutionen fehlt, die den „revolutionären“ Prozeß unumkehrbar machen. Dohnke, er war Parteisekretär an der Humboldt-Universität, meinte, ähnliche Diskussionen habe er hier schon 1953, nach dem 20. Parteitag in Moskau, und 1961 nach dem Mauerbau („Jetzt kann man ja Mauerbau sagen“) erlebt. 1961 habe es auch „Erlebnisberichte“ von Polizeiübergriffen genau in diesem Festsaal gegeben. „Warum sind die Ansätze zur Demokratie immer wieder untergegangen?“ Die Frage blieb im Raum. Aber jener Philosophieoberst trieb sie noch weiter: Es reiche nicht, bei 1953 anzufangen. Dieses Unterdrücken der Demokratisierung gehe durch die gesamte Parteigeschichte, beginne nach Rosa Luxemburg, mit den zwanziger Jahren.

Das kennzeichnete den Philosophiekongreß überhaupt: Einerseits wurde Notwendigkeit betont, weitausholend die Geschichte des Marxismus und des Dogmatismus aufzuarbeiten; andererseits die Hast, damit die Philosophen nun endlich auch am „Aufbruch partizipieren können“. Ziemlich hilflos schwankte man zwischen Selbstüberschätzung und betroffener Selbstkritik. Immerhin: Änderungen wird es geben - eine unabhängige Philosophische Gesellschaft, die Organisation der „jungen Philosophen“, die Anfang Dezember ihre erste Tagung machen werden und ein großer Unwille gegen die alten Gesichter. Eine der letzten Fragen: „Wo sind eigentlich die enormen Teilnahmegebühren geblieben.“