Expressionistische Minutenpoesie

■ „Nautilus‘ Literarischer Taschenkalender“

Spätestens im Dezember weiß der gelegentliche Besucher von Buchhandlungen, daß das nächste Jahr auch nicht besser als das vergangene wird: Neben der Kasse stapelt sich der Müll, der zuverlässig auch in den kommenden Monaten die Gehirne des Milieus verkleistern wird. In dieser trübseligen Müllhalde retten wir uns auf eine erfreuliche Insel: Den literarischen Taschenkalender der Edition Nautilus, der sich nach den dadaistischen Provokateuren und der sowjetischen Avantgarde der zwanziger Jahre im nächsten Jahr dem deutschen Expressionismus widmet: kurze, heftige Kicks und die Leidenschaften des Lebens. Neben Gedichten und Prosa der kanonisierten Autoren sind hier schöne kleine Entdeckungen zu machen, etwa verstreute Texte und Holzschnitte aus Pfemferts Aktion oder eher unbekannte Maler und Dichter des Dresdner Expressionismus. Eine dieser Dresdner Expressionisten, die vergessene Bess Brenck Kalischer verblüfft den Leser schon vor dem ersten Januar mit einer deutlichen Aufforderung: „Wundern Sie sich Ausrufungszeichen Es gibt Menschen Punkt Wundern Sie sich, daß es Menschen gibt Fragezeichen Ja, es gibt Menschen Punkt Punkt Punkt es gibt Menschen. Der Blitz dieser Entscheidung treffe Sie, das Feuer dieser Erkenntnis zerschlage Sie so tief - bis... Wie, Sie sitzen noch immer regungslos vor mir, Sie beten noch immer die lange steife Linie an, statt einmal, ein einziges Mal den Sprung ins Chaos zu wagen...“

Peter Laudenbach

Nautilus‘ Literarischer Taschenkalender 1990, 12,80 DM