Namibia wählt die Vergangenheit ab

■ Vom 7. bis zum 11. November finden die ersten freien Wahlen in der letzten Kolonie Afrikas statt

Technisch wollen die UNO-Wahlbeobachter den regulären Ablauf der ersten freien Wahlen in Namibia fest im Griff haben. „Fliegende Wahlbüros“ sollen es den 701.000 Wahlberechtigten im riesigen Wüstenstaat im südlichen Afrika ermöglichen, ihre Kreuzchen zu machen. Mit unsichtbarer Tinte soll verhindert werden, daß die Stimmabgabe mehrmals erfolgt. Dennoch bleib die Frage offen: Wird die erwartete Wahlsiegerin Swapo die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes von Südafrika auflösen können?

Was bedeuten „freie und faire Wahlen“ für die Buschmänner (Boshimen) im Nordosten Namibias? Die Vereinten Nationen wissen auch darauf die Antwort - zumindest technisch: Ein Hubschrauber wird auf die „ältesten Menschen der Erde“ niederkommen, um in den Weiten einer noch immer nomadisierenden Gesellschaft moderne Bürgerrechte möglich zu machen. Jeder soll das gleiche Recht haben, sein Kreuzchen an der richtigen Stelle zu setzen. Was das „fliegende Wahlbüro“ im Kopf eines Analphabeten in der Wüstensteppe auslöst, ist dabei eine ganz andere Frage. Sie bleibt offen.

Im südwestlichen Zipfel Afrikas siegen in dieser Woche demokratische Formen über historische Inhalte. Einheitliche, „faire“ Wahlprozeduren regeln ab heute die Geschichte eines Landes, die andernfalls nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wäre. Gibt es dazu eine Alternative? Wohl kaum. Aber das gute Gewissen, mit dem die internationale Gemeinschaft Namibia aus dem Dornröschenschlaf erweckt, um das Land in die Selbstbestimmung zu führen, wahrt nur den Schein: Insofern Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Demokratie auf Voraussetzungen aufbauen, die gemeinhin als „politische Kultur“ bezeichnet werden, bleiben die Wahlen in Namibia für weite Teile der Bevölkerung nur ein formaler Akt, der mit der Entlassung in die Mündigkeit so viel zu tun hat wie mit dem Hofgang in einem Gefängnis. Am vergangenen Wochenende hat die „Demokratische Turnhallen-Allianz“ (DTA) ihr zwölfjähriges Bestehen und zugleich den Abschluß ihres Wahlkampfes gefeiert. Ein großes Fest mit Würstchen und Freibier. Schwarze und Weiße gaben hier in feucht-fröhlicher Gemeinsamkeit ihrem Wunsch nach einer „harmonischen Zukunft“ Ausdruck, während etwas abseits eine Gruppe barbusiger Frauen aus dem nordwestlichen Koakoland auf Beistand warteten. Ihr Stammeschef hatte sie vor sechs Wochen auf die Wahlreise geschickt. Seitdem werden sie in DTA-Bussen von einer Wahlkundgebung zur anderen gekarrt. Jetzt geht es eilig zurück in die heimischen Wahlkreise, wo sie und andere ihr ferngesteuertes Kreuzchen machen werden.

60.000 „Mischlinge“ wollen Minderheitsrechte

Die Vereinten Nationen haben freilich gesetzlich geregelt, daß niemand auch nur nach den Wahlabsichten der Namibier fragen darf. Solcherart „Einmischung“ wird mit 5.000 DM Strafe oder dreijähriger Haft geahndet. Theoretisch! 100 Kilometer südlich von Windhuk, in Rehoboth, bestimmt seit Jahr und Tag „Kaptein Hans Diergaardt“ über die Geschicke der „Baster“. Die sich so bezeichnenden „Mischlinge“ sind Ende vergangenen Jahrhunderts aus der südafrikanischen Kapprovinz über den Oranjefluß gezogen - auf der Suche nach „Freiheit und Unabhängigkeit“. Rund 60.000 „Baster“ leben seither in einer „autonomen Repubik“ von der Größe Israels in vergleichbar religiös mystifizierter Einheit. „Rehoboth“ ist die hebräisch-alttestamentarische Bezeichnung des „Gelobten Landes“. Und solange es in Rehoboth nach „Kaptein Diergaardts“ Willen geht, wird man sich hier „von den Owambos nicht einmachen lassen“. Die Owambos leben im Norden und stellen knapp die Hälfte der namibischen Gesamtbevölkerung - und die ethnisch eingefärbte Machtbasis der Swapo. „Wenn uns von der künftigen Regierung keine Minderheitsrechte garantiert werden, dann schließe ich nicht einmal die Sezession oder einen Bürgerkrieg aus“, erklärt Diergaardt. Große Worte, aber innerhalb von Rehoboth klingen sie hinreichend martialisch, um die Gemeinschaft der „Baster“ zum Stimmblock zu schmieden.

Solche Realitäten würden natürlich nicht dadurch verbessert, wenn die Vereinten Nationen nun auch noch offenen Stimmbetrug zuließen. Der scheint auch tatsächlich ausgeschlossen. In 350 Wahlbüros wachen je vier UN-Beamte über fünf Staatsbeamte der weitgehend südafrikanischen Landesverwaltung. Die Kräfteverhältnisse sind in Wirklichkeit einem regulären Ablauf noch viel zuträglicher: Erbetene und selbsternannte Beobachter sind in der letzten Woche zu Tausenden ins Land gekommen. Ebenso wie den knapp 700 angereisten Journalisten ist es ihnen gestattet, sich in den Wahlbüros von der Regularität des Urnenganges selbst zu überzeugen. Technisch bleibt nichts dem Zufall überlassen. Dank einem Hektoliter unsichtbarer Tinte gerät niemand auch nur in Versuchung, zweimal zu wählen. Nach der Stimmabgabe muß der Bürger seine zehn Finger in die Tinte tauchen. Sie bleibt unter Ultraviolettlicht für mindestens eine Woche sichtbar. „Wer doppelt wählen will, muß sich zuvor beide Hände abhacken lassen“, erklärt stolz ein UN -Wahlbeobachter.

Das erinnert an die Findigkeit, mit der die Vereinten Nationen den 41.000 heimgebrachten Flüchtlingen bis auf weiteres den Besitz von Macheten verweigert. Sie wurden aus dem vorbereiteten Bündel kostenlos verteilter „Agrar -Utensilien“ kurzerhand wieder herausgenommen, um etwaige Gewalttaten im Vorfeld der Wahl zu verhindern - in einem Buschland, in dem ohne Machete niemand auch nur spazierengeht; ganz abgesehen vom beeindruckenden Arsenal an Feuerwaffen, das - vor allem weiße - Namibier in ihren Wandschränken horten. Der Perfektionsdrang in Sachen Wahlprozedur ist umso erstaunlicher, als die inhaltlichen Voraussetzungen „freier und fairer Wahlen“, so wie sie in der UN-Resolution 435 niedergelegt waren, in den vergangenen Monaten nur mühsam erfüllt worden sind. So ist u.a die gefürchtete Polizeieinheit Koevoet (Brechstange), die seit zehn Jahren „Swapo-Terroristen“ im nördlichen Buschland jagte, erst Ende September endgültig aufgelöst worden. Bei der von der UNO organisierten „Verabschiedungszeremonie“, die vor allem zur Entwaffnung dienen sollte, sind von 1.200 Mann 300 nicht einmal angetreten. Die vormals in Angola stationierten Swapo-Guerilleros sind - wie eigentlich vorgesehen - nie registriert, in die Heimat zurückgeführt und in Kasernen bis zum Wahltag überwacht worden. Statt dessen sind sie auf eigene Faust als „Flüchtlinge“ zurückgekehrt. Ist das heute noch von Bedeutung? Das wird davon abhängen, wie die Namibier selbst „ihre“ ersten Wahlen verstehen. Sollte das Ergebnis umstritten sein, dann wird eine lange Zeit von der Außenwelt abgeschnittene „südafrikanische Provinz“ mit Sicherheit trotzig reagieren. Die fürsorgliche Belagerung durch die wohlmeinende internationalen Gemeinschaft könnte unerwartete Abwehrreaktionen provozieren. Ganz unberechtigt wären sie nicht, wird doch unter ihrer Ägide diese Woche Demokratie nur als Prozedur zelebriert. Aber das ist immerhin ein Anfang.

Knut Pedersen, Windhuk