Bürokratisch geregelte Reisefreiheit

■ In der DDR wurde der Entwurf eines Gesetzes über Reise und Ausreise veröffentlicht / 30 Tage soll fast jeder raus dürfen / Das Gesetz soll schon vor Weihnachten in Kraft treten / Der Rücktritt des SED-Politbüros wurde durch Kulturminster Hoffmann angekündigt

Berlin (taz/ap/dpa) - Auf wenig Begeisterung bei DDR-Bürgern ist der Entwurf eines Reisegesetzes gestoßen, der gestern in allen DDR-Zeitungen nachzulesen war. Ein Ostberliner brachte die Bedenken auf den Punkt. Ihn stört, daß „man weiterhin wochenlang wie ein Bittsteller auf Entscheidungen der zuständigen Behörden warten muß“. Er will mit seinem Ausweis einfach über die Grenze gehen können, „nur weil eben schönes Wetter ist“.

In der Tat enthält der jetzt veröffentlichte Entwurf, der in den folgenden Wochen öffentlich diskutiert und spätestens am 20. Dezember von der Volkskammer verabschiedet werden soll, eine Menge einschränkender Bestimmungen. In §2 heißt es noch einfach und deutlich: „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht, in das Ausland zu reisen.„ Dafür erhält jeder einen Reisepaß. Doch der allein genügt nicht. Man braucht außerdem auch noch für die meisten Länder ein Ausreisevisum, das aber kann eventuell verweigert werden, „wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist“. Es soll sich dabei freilich um „Ausnahmen“ handeln. Der Visumsantrag muß mindestens einen, höchstens drei Monate vor der Reise bei der Volkspolizei gestellt werden, so will es der ebenfalls veröffentlichte Entwurf einer „Durchführungsverordnung“. In dringenden Fällen soll eine Bearbeitungsdauer von drei Tagen genügen.

Nicht geregelt wird mit dem Gesetz die Finanzierung der Reisen. §5 legt fest: „Die Genehmigung einer Privatreise begründet keinen Anspruch auf den Erwerb von Reisezahlungsmitteln.„ Auch diese Einschränkung hat in ersten Reaktionen Unwillen ausgelöst. Man kann es freilich auch als Fortschritt betrachten, daß ein Recht nicht mehr daran gebunden wird, daß der Staat seine Realisierung jeweils für finanzierbar hält.

Mit dem Gesetz soll auch das Recht auf Ausreise geregelt werden. „Anträge für ständige Ausreise„ müssen in einer Frist zwischen drei und sechs Monaten entschieden werden. Die Arbeitsstelle muß schriftlich Auskunft geben über „Tatsachen, die einer Genehmigung entgegenstehen können„, Unterhaltszahlungen, die Vermögensverhältnisse etc. müssen geregelt sein.

Die Bürgerrechtsorganisation „Neues Forum“ reagierte skeptisch auf den Entwurf. Dem Westberliner Rundfunksender Rias sagte der Mitbegründer der Bewegung Sebastian Pflugbeil, die DDR-Bürger hätten schlechte Erfahrungen mit neuen Gesetzen gemacht. Reisen sei nicht das wichtigste Problem, die Führung müsse ihre Ernsthaftigkeit mit anderen Reformbemühungen beweisen. Zuviele hätten schon das Land verlassen, sagte Pflugbeil. Die Spannung zwischen Volk, Regierung und Partei sei „nie so groß gewesen wie heute“.

Auch westliche Politiker äußerten sich skeptisch über das neue Gesetz. So erklärte West-Berlins Regierender Bürgermeister Momper, die DDR-Führung habe mit dem Gesetzentwurf die „Chance vertan, das anhaltende Mißtrauen der Bevölkerung an einem entscheidenden Punkt zu durchbrechen“. Der SPD-Politiker erklärte, vor einem Jahr hätten die DDR-Bürger sicher noch gejubelt: „Heute jedoch ist es das falsche Signal, wenn der Staat immer noch den Eindruck erweckt, als wolle er die Reisen seiner Bürger reglementieren und das freie Reisen mit bürokratischen Prozeduren verbinden. Die DDR-Führung schürt das Mißtrauen, wenn sie sich auch die notwendigen Reformen nur scheibchenweise abtrotzen läßt.“

Eine überraschende Mitteilung machte am Sonntag bei einer Diskussion in Leipzig Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann. Er kündigte laut 'adn‘ an, daß das SED-Politbüro geschlossen zurücktreten werde. Damit soll dem neuen Generalsekretär Krenz „eine echte Chance“ gegeben werden. Der Minister, der noch nie durch einen eigenwilligen Gedanken aufgefallen ist, meinte ferner, daß die DDR „so schnell wie möglich eine neue Regierung braucht“.

ws