: Die Trillerpfeife des Perkussionisten
■ In Berlin fanden letzte Woche eine Adorno-Konferenz und ein Konzert mit Werken Adornos und Schnebels statt / Ein paar Höreindrücke
Thierry Chervel
Nie, sagt die Referentin, habe ihr Adornos Verwendung der Begriffe „Subjekt“ und „Objekt“ das Glück der Evidenz geschenkt. Sie erklärt das damit - ich berichte als philosophischer Laie und bin keineswegs sicher, den hochabstrakten Vortrag in jedem Punkt verstanden zu haben -, daß Adorno diese Begriffe, wie Begriffe überhaupt, aus dem dreitausendjährigen Zusammenhang der abendländischen Metaphysik herausreiße, daß er sich weigere, sie zu definieren, und sie statt dessen in schwebende Konstellationen setze, aus denen sie als die „Namen“, die Adorno nicht nennen will, ex negativo hervorscheinen sollen. Eine solche begriffliche Mimesis, fährt die Referentin fort, könne aber nicht anders als scheitern, und zwar weil sie das „Reich der Notwendigkeit“ ausgrenze. Darin liege Adornos fundamentales Hegel-Mißverständnis. Das „Reich der Notwendigkeit“ - damit meinte Hegel die Unverzichtbarkeit der Systematik von Philosophie. Adorno wirft dieser Systematik Positivität vor. Grundfalsch: Vielmehr sei sie als die radikale Negation der - ich zitiere aus dem Gedächtnis - „unheimlichen Kräfte des Verstandes“ zu sehen. Entweder man negiert sie, fügt sie als Begriffe ins System, oder man erliegt der Gewalt der Metaphysik. Adorno habe das verkannt.
Vorträge sind eine gefährliche Form der Wissensvermittlung. Man hat keinen Text, an den man sich halten kann, dafür sieht man den Autor, hört den Ton seiner Stimme. Man gerät ins Spekulieren. Man neigt dazu, den Vortrag, dem es doch strikt um die Sache geht, wie einen Schlüsselroman zu dechiffrieren. Allzuleicht bezieht man den Text auf die Person des Autors, die man doch gar nicht kennt.
Könnte es sein, träumt man, daß gerade in den abstraktesten Schriften autobiographische Erzählungen stecken? Daß jemand uns etwa darlegt, warum er das Glück, statt in Subjekt -Objekt-Konstellationen, im Reich der Notwendigkeit - das ist wahrscheinlich ein Fachbereich an der deutschen Universität - sucht, dort wo man nach den Schatten fahndet, die sie rein als Begriffe ins Gebäude der abendländischen Metaphysik geworfen haben?
Aber das ist ein Eindruck, ein Höreindruck wie gesagt, ein Mißverständnis vielleicht und tut dem Text als philosphischen auch keinen Abbruch. „Schließlich hat Sprache nichts als Begriffe“, gibt die Referentin noch zu bedenken. Schrift wäre also die einzig ihr gemäße Form, denn nur schwarz auf weiß lassen sich Begriffe bis in ihre letzten Verästelungen verfolgen. In einer ihrer Thesen wird man der Referentin allerdings schon nach dem bloßen Hören des Vortrags kaum widersprechen wollen: daß die Kräfte des Verstandes an der deutschen Universität radikal und systematisch negiert werden.
Dem Höreindruck nach ist „Konstellation“ bei Adorno nicht nur ein zentraler Begriff, sondern auch eine Art musikalischer Technik. Am sinnfälligsten wird das in seinen Bearbeitungen französischer Volkslieder, die echte Adorniten, wenn sie über seine Musik reden, immer ein bißchen links liegen lassen, weil sie peinlich sind, so populär. Es handelt sich im Grunde gar nicht um Bearbeitungen, eher um Arrangements, denn die Sept chansons werden restlos in die Singstimme übernommen, ohne die geringste melodische oder rhythmische Veränderung, ohne Streichungen oder Hinzufügungen, eingebettet allerdings in eine Klavierbegleitung, die die Lieder, ohne je die in ihnen implizierte tonale Harmonik zu verraten, durch behutsame impressionistische Trübungen oder Glanzlichter, archaisierende Fauxbourdontechniken und Orgelpunkte, Trugschlüsse und Vorhaltsbildungen, ins Licht der unwillkürlichen Erinnerung rückt. Durch die Klavierbegleitung scheinen sie indirekt, wie der „Name“, den Adorno in seinen Begriffskonstellationen nicht nennen will.
Der Gestus der Erinnerung findet sich in allen Kompositionen Adornos. Die von ihm selbst mit Opuszahlen versehenen Kompositionen, also die, die er selbst zählte, stammen aus den Jahren 1923 bis 1944, aber sie halten an einem früheren Stand des Materials fest: der freien Atonalität, die vom Schönberg-Kreis um 1910 entwickelt und nach 1914 mit der Zwölftontechnik überholt wurde. Das positiv Systematische an dieser Technik war allerdings nie recht Adornos Sache - er nahm sich lieber die Freiheit, hinter die der objektive Geist schon regrediert war. Dieter Schnebel, der Adornos Werke im Konzert erläuterte, nennt ihn einen „unzeitgemäßen Komponisten“. Adorno ist ein verspäteter Expressionist.
Schnebel - ein Traum von einem Musiklehrer - nimmt ein paar Takte aus der Klavierbegleitung des Lieds Trabe, kleines Pferdchen (1942) nach Kafka, läßt sie noch mal vorspielen, und als wäre die Musik dankbar schon für diesen kleinen Akt der Zuwendung, offenbart sie, was sie, die schaudernd zarte und spröde, bis dahin sorgsam verbarg: wie sie gemacht ist, ja: daß sie gemacht ist. Eine Konstellation von vier bis sechs Tönen im ersten Takt, eine Linie löst sich aus einem Akkord, steigernde Variation von Takt zu Takt, ein Zerreißen der Konstellation gewissermaßen, dann Mittelteil und veränderte Reprise des Anfangs. „Ein fast minimalistisches Kompositionsprinzip“, sagt Schnebel.
Die Schönheit ist also Konstrukt, aber kein selbstgenügsames, und allen Musikern des Konzerts - der Sängerin Annette Tangermann, der Pianistin Liselotte Eßer, dem Buchberger Quartett und dem Ensemble Zeitklänge unter Mirjam Sohar - ist zu danken, daß sie sich trauen, Adornos Musik als Musik zu spielen, nicht als Konstrukt, ohne die Angst vor Ausdruck und Emphase, die Neue-Musik-Musiker manchmal so verklemmt wirken läßt.
Das zweite der Zwei Stücke für Streichquartett op. 2 (1925/26), der Variationensatz, beginnt mit einem Solo der ersten Geige: große Septe aufwärts, Quarte abwärts usw., eine Zwölftonmelodie. Darunter muß in der Partitur espressivo stehen, wenn nicht gar wienerisch, Hubert Buchberger jedenfalls spielt die Kantilene mit geradezu stehgeigerhaftem Sentiment. Das Stück bildet mit acht Minuten Länge die größte Form, die Adorno je komponiert hat. „Sie ist schwer durchhörbar“, sagt Schnebel. Er läßt die einzelnen Variationen noch einmal vorspielen. Daß sie Varianten der ursprünglichen Kantilene sind, bleibt dem bloßen Hören in der Tat oft verschlossen, man muß es schon dem Notentext entnehmen, es sei denn, man ist ein „struktureller Hörer“ und kann mit den Ohren lesen.
Einmal benutzt Adorno also die Reihen und Variationstechniken der Dodekaphonie, Krebs, Umkehrung, Umkehrung des Krebses, vertikale Staffelung der linear exponierten Töne usw. Aber das Stück erschöpft sich nicht in diesen Vertracktheiten, die überhaupt erst offenbar werden, als Schnebel auf sie hinweist - als wären sie eine Privatsache des Stücks. Es leugnet zwar nicht, daß es für ein genaueres Verständnis detaillierterer Analyse bedürfte, es ist ein offensichtlich komplizierter musikalischer Verlauf, aber es wird darum nicht zur esoterischen Chiffre, sondern bietet noch andere Momente der Identifikation als die Nummernfolge der Reihen und Variationen: die anfängliche Geigenkantilene, Steigerungen, Lösungen, Gesang und Virtuosität.
Die Reihen dienen in dem Stück auch nicht als unverletzliches Organisationsprinzip, sondern als eine Art Halt, der es Adorno ermöglicht, sich zur größeren Form aufzuschwingen. Sie stehen, wie in manchen seiner Lieder, in frei atonalem Zusammenhang, dem es wiederum, zumindest stellenweise, um etwas anderes zu tun scheint: Tonalität. Vielleicht wirken die Adornoschen Dissonanzen oft deshalb so wenig schroff, weil sie sich konstellieren, als wären sie funktionale Dissonanzen der tonalen Harmonik, in die sie sich allerdings niemals auflösen. Vielleicht daher die Expressivität dieser Stücke - Klage um ein Verlorenes, das, beim Namen gerufen, erst ganz verschwindet. Irritierend die kleine, einsame Cello-Melodie ganz am Schluß, die mir mit ihren kleinen und übermäßigen Sekunden im Molldur der Zigeunertonleiter zu stehen scheint.
Adorno“, sagte Elisabeth Lenk im Eröffnungsvortrag der Konferenz - Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt -, „ist Schriftsteller. Und Musiker“, setzt sie hinzu, „aber Notenschrift ist ja auch Schrift.“ Diese Parallelisierung löst im Publikum Gelächter aus, als wäre sie allzu äußerlich. Dabei trifft sie den Kern. Adorno hat als Komponist und Theoretiker zeit seines Lebens an der Schriftlichkeit von Musik festgehalten. Wenn er etwas an der Kulturindustrie gehaßt hat, dann, daß sie die individuellste Regung, um die Komponisten jahrhundertelang mit der Schrift ringen mußten, einfach technisch aufzeichnete und reproduzierte, daß sie das „So ist es“, das ihm die verlorensten Phrasen der Musik zu sagen schienen, zum affirmativen Dröhnen standardisierte. Vielleicht schwingt so etwas wie Neid darin mit, vor allem auf die „leichte Musik“. Jedenfalls müßte eine Kritik der Adornoschen Kulturindustriekritik an diesem Punkt ansetzen. Es reicht nicht - wie Detlev Claussen es in seinem Vortrag über die Aktualität der Kulturindustriekritik bei Adorno getan hat -, einem Publikum, das ohnehin Bescheid weiß, süffisant zu bestätigen, daß Adornos Kulturindustriekritik jedenfalls nicht in einer Talkshow widerlegt werden kann - so geschehen in HR 3 -, weil diese Gattung selbst der Kulturindustrie angehört.
Der traumhafte Musiklehrer Dieter Schnebel hat seinem Lehrer anfang der sechziger Jahre die Glossolalie für 3-4 Sprecher und 3-4 Intrumentalisten gewidmet, die am Schluß des Konzerts aufgeführt wurde. Glossolalie ist ein Reden in Zungen, das unwillkürlich aber wahr ist, oder eben Wahnsinn. Dafür geht Schnebel über die Schriftlichkeit Adornos hinaus, oder hinter sie zurück. Es ist, als hätte sich das espressivo, das früher unter den Notensystemen stand, verselbständigt und suchte sich nun neue Formen der Notation. Anders als die klassische Notenschrift hat Schnebels Partitur als Bild ihr eigenes Recht und ist doch nicht zu entschlüsseln ohne die konkrete Interpretation der Sprecher und Instrumentalisten hier und jetzt. Sinn macht die Glossolalie nur in der Konstellation von Schrift, Sprechen und Instrumentalmusik. Sie ist nämlich eine Reflexion darüber, daß Sprache doch nicht „nichts als Begriffe hat“, sondern auch Laute, die ihren Sinn modifizieren. Sie muß überhaupt erst hervorgetrieben werden aus einem Tumult von Körpergeräuschen und Lärm der Welt, oder sie geht darin unter.
Die Glossolalie ist ein Stück ästhetischer Theorie oder theoretischer Musik. Als erstes tritt ein Sprecher vor und gibt eine Einführung ins Stück, verweist auf Instrumente und Machart. Bald aber dehnt er die Worte so sehr, daß man sie nicht mehr versteht, und wird übertönt von der Trillerpfeife des Perkussionisten. So feiert das Stück das Chaos oder eine Ordnung, die von sich weiß, wie willkürlich und absurd sie ist. Wenig später heißt es: „Das Stück ist nun schon lange in Gang.“ Es fallen Äußerungen wie „Ein klarer 3-zu-2-Sieg“, Wörter wie „Südvietnam“, dann räuspern sich die Sprecher, usurpieren damit einen Stimmklang, der in klassischen Konzerten dem Publikum vorbehalten ist, und steigern ihn zum asthmatischen Anfall. Kurz darauf gelangen sie zu den tiefsinnigsten metaphysischen Fragestellungen wie: „Kroklokwafzi?“ und beantworten sie wahrheitsgemäß mit: „Semememil!“ (nach Chr. Morgenstern). So klingt Sprache im Reich der Notwendigkeit.
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