Abschied von der Insel

■ Berlins Stadtentwicklung nach dem Fall der Mauer

Wulf Eichstädt

Nach der phantastischen Nacht vom 9.November und der unkomplizierten Grenzkontrollen am nächsten Tag ist ein freier Reiseverkehr zwischen Ost und West plötzlich realisiert. Es fehlt eigentlich nur noch die gleiche Lässigkeit beim Übergang von West nach Ost, und man könnte von einer normalen Situation sprechen.

West-Berlin muß sich also, schneller als es vielen lieb ist, auf eine neue Zukunft und die Rolle eines Regionalzentrums einstellen, in das täglich Hunderttausend und mehr Menschen aus allen Teilen der DDR hineinströmen, um zu kaufen, Kontakte anzuknüpfen, Verwandte zu besuchen und einfach mal da gewesen zu sein.

Bis auf weiteres werden diese Leute über eine geringe Kaufkraft - hier - verfügen, bis auf weiteres werden nur wenige von ihnen hier arbeiten oder studieren können, aber trotzdem werden die Veränderungen, die von diesem plötzlich in Gang gebrachten regionalen Austausch ausgehen, tiefgreifend und umfassend sein.

Hunderttausend Besuchspendler pro Tag dürften bei 15 Millionen DDR-Bewohnern, davon allein über zwei Millionen in Ost-Berlin und den umliegenden Mittelstädten, eher die untere Grenze dessen sein, was täglich durch die Kontrollstellen drängen wird. Kaufhauskunden,

und was noch?

Was bedeutet das? Die Leitstellen des Senats konzentrieren sich zur Zeit darauf, die DDR-Leute zunächst nur als Kaufhauskunden und Verkehrsteilnehmer zu analysieren, um herauszufinden, wo neue Übergänge geschaffen werden müssen, und wie mit Hilfe von großzügigen Park and Ride-Plätzen das Trabi-Chaos in den verstopften Westberliner Hauptstraßen verhindert werden kann.

Bei dieser Betrachtung kommt der politische Austausch der Freizeitbesucher, der Kulturteilnehmer, der Besucher aus beruflichen Interessen, der Lehrgangsteilnehmer, der Messebesucher, der Stipendiaten, der Gastdozenten und Austauschlehrer noch gar nicht vor. Aber vielleicht müssen tatsächlich erst die ersten fünf Millionen Besucher hier gewesen und der Weihnachtseinkaufsrummel - samt Winterschlußverkauf - abgefeiert sein, bis man beginnt, sich über komplexere Austauschprozesse Gedanken zu machen. Zentrenentwicklung

Mit Sicherheit wird man in Kürze Planspiele zu der Frage anstellen, ob die vorhandenen Einkaufszentren West-Berlins in Lage, Struktur und Ausstattung ausreichen, um mit der neuen Nachfrage fertig zu werden. Es wird die Auseinandersetzung geben, ob es besser ist, die vorhandenen Hauptzentren zu stärken, oder ob man die polizentrische Struktur weiter entwickeln soll.

Man wird den Potsdamer Platz wiederentdecken und genauso die anderen innerstädtischen Grenzübergänge - Brunnenstraße, Chausseestraße, Invalidenstraße, Moritzplatz und Schlesisches Tor. Der Neubau eines Wertheim-Kaufhauses am Moritzplatz, an derselben Stelle, wo vor 45 Jahren eines stand, ist plötzlich keine Spinnerei mehr. Andere werden die unterbrochenen S-Bahnlinien in das Umland wiederentdecken und fordern, daß die neuen Subzentren am Rande der Stadt liegen müssen, damit so wenig zusätzlicher Individualverkehr wie möglich entsteht und sich auf dem gleichen Verbundnetz ein neuer Freizeitverkehr der Inselberliner in die Region ausbreiten kann.

Die prognostizierten Debatten treffen jedoch nur die eine Hälfte der Medaille, weil unter längerfristigen Gesichtspunkten es nicht das Hauptziel West-Berlins sein kann, konvertierte Kaufkraft aus der DDR auf sich zu ziehen und hier abzuschöpfen, während die Innenstädte Ost-Berlins und der vielen Regionalzentren weiter veröden.

Wer auf längere Sicht eine integrierte, am Ausgleich arbeitende Regionalentwicklung will und nicht neu zugespitzte Schwellensituationen, muß zumindest in Frage stellen, ob der systembedingte Bedeutungsüberschuß West -Berlins als Einkaufszentrum nicht nur weiter ausgebaut, sondern perspektivisch in Richtung auf den größeren Raum verlagert werden muß. Warum sollen nicht in Ost-Berlin, Potsdam, Oranienburg, Bernau und Königswusterhausen neue Formen von Einkaufszonen entstehen, die den gleichen Warenkorb bieten wie in West-Berlin Schloßstraße und Hermannplatz und die, um das Währungsproblem zu nivellieren, vielleicht als Freihandelsräume organisiert werden. Neue Stadt

Umland-Beziehungen

In allen Stadt-Umland-Beziehungen wird der wichtigste Unterschied zwischen Berlin und anderen Metropolen - Paris, Frankfurt oder London - weiter darin bestehen, daß die Austauschprozesse von Waren und Leistungen, das Geben und Nehmen zwischen Stadt und Region sich dort beinahe naturwüchsig entwickelt, während in Berlin alles von politischen und ökonomischen Steuerungsentscheidungen und -verträgen abhängig bleiben wird. Das fängt bei dem Mitnehmen eines Fahrrades nach Schmöckwitz an und hört bei der west-östlichen Genehmigung für eine stundenweise in West -Berlin beschäftigte Putzfrau aus Ost-Berlin auf.

Eins der verrücktesten Phänomene unserer Situation dürfte doch wohl sein, daß die Insel Berlin seit einer ganzen Generation von der Öffnung zur Region träumt, und - wo's ernst wird - nicht ein einziger in Ost und West halbwegs abgesichert sagen könnte, welche Austauschprozesse zum gegenseitigen Nutzen gewünscht werden, und wie diese rechtlich geregelt und finanziert werden können.

Gewußt und gefürchtet wird offensichtlich nur der östliche Drang zum Einkaufen mit dem Zweitaktmotor und die westliche Sehnsucht nach einem Grünspaziergang mit anschließendem Gelage in einem Landgasthof.

Wieviel West-Berliner und westliche Berlintouristen verträgt denn Potsdam, bis der Ort für DDR-Besucher völlig unausstehlich, weil unbezahlbar wird? Werden dort eines Tages Devisencafes - exklusiv - eröffnet? Oder darf Joes Bierhaus demnächst unmittelbar am Eingang zum Großen Garten ein eigenes Etablissement aufmachen? Welche Chancen erhalten Fast-Food-Läden in Ost-Berlin? Wird es ein Wohnrecht für Westberliner in der DDR geben, und wie verhindert man, daß dadurch nur die bestehenden Versorgungsengpässe verschärft werden? Werden Westler drüben bauen dürfen? Mit welchen Baukapazitäten und welcher Währung? Wenn uns das alles zu utopisch ist: Werden Sie wenigstens eine Gartenparzelle pachten dürfen? Und mit welchen Gesetzen geraten Sie in Konflikt, wenn darauf eine Laube entsteht?

Genauso kompliziert wird es mit Sicherheit, wenn im Produktions- und Dienstleistungssektor Verbindungen zum beiderseitigen Vorteil geplant werden. Wenn sich Nixdorf in Marzahn an einem Elektronikkombinat beteiligt oder die Berliner Bank sich um eine Filiale am Alex bemüht. Joint -ventures.

Lassen wir alle schwarzen und grauen Märkte, die sich bilden werden, mal beiseite, dann ergibt sich ein kompliziertes, ungute Gefühle produzierendes Strickmuster, das zumindestens in der Theorie der überbewerteten D-Mark alle Türen zu ungeahnten Terrains öffnet, während alles, was auf Ost-Währung angewiesen bleibt, nicht zum Zuge kommt, sondern eher beiseite gedrängt wird. Das heißt auch: solange dieses Ungleichgewicht herrscht, wird der regionale Austausch nur verklemmt in Gang kommen. Und: eine Westberliner Regierung muß eigentlich aus wohlverstandenem Eigeninteresse alle Hebel in Gang setzen, damit diese Ungleichgewichte nicht weiter zugespitzt, sondern Zug um Zug abgebaut werden.

Beispiel Stadterneuerung: Die DDR hat ein für sie allein nicht lösbares Problem in der verschleppten Erneuerung alter Stadtquartiere in Leipzig, Halle, Dresden, Eisenach, Görlitz, Halberstadt, Potsdam und anderswo. Während von dem Verwahrlosungsdruck bis zum Beginn der achtziger Jahre hauptsächlich Gebäude und Viertel aus dem sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert betroffen waren, sind seitdem zusätzlich die Gründerzeitgebiete zum städtebaulichen Notstandsgebiet geworden. Bis vor kurzem durfte diese Zerstörung europäischer Kulturregionen in der DDR nur hinter vorgehaltener Hand debattiert werden, inzwischen ist auch dies zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen - bis in die „Aktuelle Kamera“ hinein geworden.

Da sich DDR-Regierungen auch in Zukunft schwer tun werden, in einer solchen Frage um Hilfe zu bitten, sollte sich Berlin Ost und West sehr schnell zu einem Forum entwickeln, in dem solche Informationen und Ansprüche ausgetauscht werden können, und in dem die Grundlage für ganz konkrete Hilfsleistungen erarbeitet werden. Konsequenzen

für die Stadtplanung

in West-Berlin

Ein sich verstärkender Austausch zwischen Berlin und seinem Umland hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Stadtplanung und die Flächenhaushaltspolitik in West-Berlin selbst.

Der künstliche Stadtrand an der Mauer zwischen Brunnenstraße und Schlesischem Tor hat zum ersten Mal wieder die Chance, sich zur Innenstadt zurückzuentwickeln. Was tut die Stadt, wenn schon im nächsten Jahr die Industrie- und Handelskammer kurzfristig bebaubare Standorte für eine halbe Million Quadratmeter Bürogeschloßfläche für neue Dienstleistungen - die Planungsgröße Frankfurts - fordert?

Viele Verkehrsverbindungen werden völlig neu überdacht werden müssen. Welche Bedeutung hat der Ostberliner Ost -Bahnhof für West-Berlin? Wird man ihn über eine neue Brücke am Bethaniendamm wieder direkt von hier aus erreichen?

Der neue Ost-West-Flughafen bei Oranienburg wurde schon im März in die Diskussion gebracht. Aber was ist mit West -Berlins 2.000 Hektar Kleingartenflächen und den fehlenden Grundstücken für die nächsten 30.000 Wohnungen? Wie muß eine Stadt aussehen, die ihre vergessenen und verwahrlosten S -Bahnstrecken und S-Bahnhöfe als Siedlungsschwerpunkte entdeckt? Und. Und. Und. Regional denken!

Bevor aus solchen Träumen konkrete Politik und ein tatsächlich funktionierender Austausch wird, muß regionales Denken überhaupt erst wieder in den Köpfen Westberliner Politiker und Beamter eingeübt werden. Es muß definiert werden, was man überhaupt will, und es muß herausgefunden werden, welche Vereinbarungen kurz- und mittelfristig Aussicht auf Erfolg haben.

Lassen wir die sicher als erstes kommende Planstellendebatte - in der Senatskanzlei - mal beiseite, so braucht West-Berlin ganz kurzfristig dreierlei:

Ein regionalpolitisches Forum, das hier zunächst einmal Wünsche und Ängste sortiert und debattiert und das von Anfang an auf eine entsprechende west-östliche Institution hinarbeitet. Ein regionalpolitisches Forum muß öffentlich sein. Es ist nicht zu verwechseln mit Staatssekretärsrunden oder Geheimverhandlungen. Aufgabe eines Forums wäre es nicht, Vertragstexte vorzuformulieren, sondern wären regionalpolitische Problemanalysen, Ideensammlungen und der organisierte Meinungsstreit.

Neue Prioritäten bei allen öffentlichen Investitionen und Planentscheidungen, die an geänderte Grenzbedingungen angepaßt werden müssen. Zu diesen Prioritäten gehören verkehrsplanerische Projekte - wie zum Beispiel im S-Bahnbau - ebenso wie Investitionsvorhaben im zentralen Bereich oder an anderen Übergangsorten. Wer heute noch von der führenden Rolle des Wohnungsbaus ausgeht, ohne die neu erforderlichen Dienstleistungs- und Produktionszentren mitzudenken, handelt fahrlässig.

Und einen Perspektivhaushalt, mit dem neu hinzukommende dringende Vorhaben - zum Beispiel die Sanierung der Oberbaumbrücke, eine beschleunigte Wiederinbetriebnahme stillgelegter S-Bahntrassen, ein regionales Handelszentrum, oder ein grenzüberschreitendes Stipendienprogramm überhaupt finanziert werden können. Der bisherige Haushalt für 1990 folgt noch anderen Prioriäten, und es wäre peinlich, wenn dieser Umstand dem neuen Denken im Wege stehen würde.

Die Buchläden der Stadt jedenfalls sollten sich vorsorglich mit ausreichenden Beständen an Karten „Berlin und Umgebung“ eindecken, denn diese dürften zum gefragten Artikel werden, wenn es so weitergeht und nicht urplötzlich wieder eiskalt wird.