Und als ich an die Grenze kam... oder: Was wird aus den Hunden?

Ein Brief von Wolf Biermann über den Fall der Mauer  ■ E S S A Y

Lieber Max von der taz, Halleluja! Die Mauer kippt. Was kann ich Dir noch groß fürs Blättchen schreiben. Was jetzt passiert, habe ich 25 lange Jahre herbeigesehnt und herbeigesungen und herbeigeredet. Aber nun, wo der sogenannte große Tag gekommen ist, ist meine Freude viel zu traurig. Gewiß, mir lacht das Herz, aber ich muß auch weinen. Weinen vor Freude darüber, daß alles so leicht und so schnell ging. Und weinen muß ich vor Zorn, weil es so elend lange gedauert hat. Mir geht plötzlich alles zu flott, und es hat mich zuviel Lebenszeit gekostet.

Seit November 1965 bis heute war ich in der DDR verboten. Nun ist es wieder November geworden. Ein Vierteljahrhundert. Der schöne Vers von Heinrich Heine geht mir nicht aus dem Sinn:

Im traurigen Monat November war's

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riß von den Bäumen das Laub

Da reist ich nach Deutschland hinüber

Und als ich an die Grenze kam,

Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen

In meiner Brust, ich glaube sogar

Die Augen begunnen zu tropfen.

Lieber Max, es ist traurig schön wie im Wintermärchen: Jetzt, schon nächsten Dienstag, soll ich ein Konzert in Ost -Berlin geben dürfen... Meine Gefühle sind ein melancholisches Gemisch aus heller Freude und schwärzester Skepsis. Ich ziehe neue Saiten auf meine alte Weißgerber -Gitarre und überlege das Programm. Welche Lieder soll ich meinen Leuten die ja nur noch halb meine Leute sind, vorsingen? Die alten Lieder aus meiner DDR-Zeit, oder wollen die vielleicht lieber hören, was einer von ihnen im Westen erlebt hat. Und für die meisten jungen Leute wird jedes Lied neu sein, denn sie waren Kinder, als ich ausgebürgert wurde. Sie mir - und ich ihnen: Wir werden einander gespenstisch vertraut sein und sind uns dennoch fremd geworden. Die langen Jahre! Aber wer weiß.

In diesem 89er Jahr wurde in Ost-Berlin mit verlogenem Schein der 40.Jahrestag gefeiert. Aber das Volk der DDR feierte in Wahrheit ein anderes Jubiläum: den Sturz der Bastille vor genau 200 Jahren. So wie die Mauern des verfluchten Staatsgefängnisses unter LudwigXVI. vom aufgebrachten Volk geschleift wurden, so wird nun die Mauer eines Staates geschleift, der selbst ein monströses Gefängnis war. Aber was mit den Steinen? Ein paar davon möchte man den verhaßten Herrschenden ins Kreuz werfen. Aber es ist besser, sie werden Souvenirs für Amerikaner oder schnell verbaut für bessere Zwecke.

Überhaupt, was soll werden aus dem Nachlaß der Tyrannei? Nimm nur all die Hunde, ich meine diese deutschen Schäferhunde an der Mauer. Sie wurden jahrelang in langgestreckten Käfigen zu neurotischen Raubtieren deformiert, menschenfeindliche bissige Köter, die können nicht mehr zu freundlichen Blindenhunden umerzogen werden. Und was wird aus den berufsmäßigen Wächtern, den Hundehaltern, was aus den Uniformierten und schwieriger noch: was aus den Nichtuniformierten? Man könnte versuchen, witzig zu sein, so wie die Demonstranten es vor Tagen schon in Leipzig skandierten: „Stasis in die Volkswirtschaft!“ Aber können diese Hunderttausende Berufsparasiten überhaupt all die jungen fleißigen Facharbeiter ersetzen, die das Land immer noch verlassen wie ein sinkendes Schiff?

All die Spitzel und Bonzen, all die privilegierten Menschenverwalter: für Facharbeit sind sie zu unwissend und für Hilfsarbeiten zu faul. Diese Schweinehunde sind auf ihre Art genauso verkommen wie die armen Hunde in den Laufkäfigen am Brandenburger Tor. Sie werden womöglich, wenn wirklich alles besser wird, als die letzte große Auswanderungswelle in den Westen schwappen und sich hier faul ins soziale Netz der Bundesrepublik fallen lassen. Aber da werden sie hart aufstoßen, und das gönne ich ihnen.

Daß Menschen, die man nach 1945 Mitläufer nannte, die demokratische Kurve elegant zu kratzen versuchen, das sei ihnen gegönnt. Wozu sich an Menschen rächen, die im Grunde vielmehr Opfer sind. Ihre Untaten haben keinen Bestand wie ihre Taten, und die verdorbenen Greise aus dem Politbüro sind längst schon Fliegen im Bernstein geworden, du verstehst: im Bernstein meiner Balladen. Aber was mit so geistigen Repräsentanten des stalinistischen Ungeistes, die immer noch mitmischen? Ich rede nicht von Krenz und Konsorten. Was wird mit solchen vitalen Wendehälsen und immer noch karrieregeilen Einpeitschern und Scharfmachern von gestern wie Hermann Kant und Klaus Höpcke? Mir fiel auf, daß eigentlich grad diejenigen Schriftstellerkollegen öffentlich von ihrer Schuld sprachen, die so gut wie keine Schuld haben: Christa Wolf, Günter de Bruyn. Lieber Max, daß sind so Gedanken, die mir durchs Herz gehen in diesen Tagen einer wunderbar bewegten Zeit.

Meine junge Frau las diesen Text durch, bevor ich ihn dir gebe, kleine Gütekontrolle. Sie sagte: „Ja Wolf, wenn der Schmerz nachläßt, merkt man erst, wie tief er sitzt.“ Lieber Max, nächstens mehr,

Wolf