Ost-West-Rendezvous auf dem Potsdamer Platz

Seit gestern ist er wieder offen: der einstige „Nabel der Welt“ / Ost-/Westberliner Bürgermeister eröffnen neuen Übergang / Massenauflauf am Sonntag morgen / Polizei auf beiden Seiten kriegt das Chaos nur mühsam in den Griff / Westler müssen draußen bleiben  ■  Von A.Kugler/U.Helwerth

Auf dem Potsdamer Platz, besser: was davon noch existiert, ist es mit der Ruhe für die „weltstädtischen Kaninchen“ (Sarah Kirsch) seit gestern vorbei. Auf dem Ödland, auf dem sie sich fast drei Jahrzehnte lang ungestört zwischen spanischen Reitern, Wachtürmen und Vopostreifen, begafft von touristischen Heerscharen, vermehrten, schieben sich seit Sonntag morgen Menschenströme aus Ost und West aneinander vorbei, drücken sich in ihrer Freude fast gegenseitig tot.

Auftakt für diese Begegnung im Niemandsland geben die beiden Teilberliner Bürgermeister Erhard Krack (Ost) und Walter Momper (West), die dort in der Morgendämmerung, um acht Uhr, zum Rendezvous verabredet sind und über praktische Zusammenarbeit sprechen wollen.

An der Spitze der ersten OstberlinerInnen, die durch den neuen Mauerdurchbruch drängten, zwängt sich Walter Momper durch die enge Gasse jubelnder SpaliersteherInnen. Auf der Westside fordern Ungeduldige „Frühstück auf dem Alex“.

Gestern mittag sind sie aufgezogen: Die ersten Kolonnen der Nationalen Volksarmee. Was ihre Väter vor 28 Jahren unter dem fassungslosen Entsetzen der ZuschauerInnen aufbauten, dürfen ihre Söhne nun wegbaggern, weghieven, wegschippen diesmal unter lautem Jubel.

Um halb sechs morgens schwebt dann die erste Betonplatte aus dem „running fence“ am Greifer. „Zugabe, Zugabe“ dröhnt es über den Platz. Ein Stück nach dem anderen - all die bunten Bilder, die gesprayten Erinnerungen an das besetzte „Kubat-Dreieck“, die intimen Botschaften „Tommy ich liebe dich“, alles verschwindet Stück für Stück. In die Begeisterung über diese Art Entsorgung des Kalten Krieges mischt sich auch Trauer. „Hierher, dalassen“ wird das Ohr eines bunten Monsters verabschiedet. Nur ein großes Hakenkreuz soll „weggeputzt“ werden.

Doch geräumt wird nach verkehrstechnischen Kriterien, nicht nach ästhetischen oder Zeitgeistgründen. Um neun Uhr sind bereits 2O Meter Mauer weg, der Blick nach drüben fast frei. In Dreierreihen, fest untergehakt, versuchen West- und Ostpolizisten „Ordnung“ in das ausbrechende Chaos zu bringen, ein Spalier für die aus dem Osten der Stadt Berlin kommenden Männer, Frauen und Kinder zu schaffen. Vergeblich, die Postenketten brechen auseinander.

Eine Masse von Schaulustigen ergießt sich auf den 300 Meter breiten Grenzstreifen, vermischt sich dort mit dem Gegenstrom, Ost-West - West-Ost. Doch wenige Meter vor dem Zaun, der bis vor wenigen Minuten noch die Ostgrenze gewesen ist, wird sortiert: WestberlinerInnen mit gültigen Visa dürfen „einreisen“, Westdeutsche müssen zurück, stehen mit „wertlosen“ Pässen auf der in der Nacht gebauten, provisorischen Straße herum. Trotz Chaos und praktischem Ausnahmezustand siegt die preußische Bürokratie.

Die WestberlinerInnen bekommen aber - sorgfältig und bedacht -, unter freiem Himmel, ihren Einreisestempel auf den Mehrfachberechtigungsschein gedrückt. Nur zum Kassieren des Zwangsumtauschs ist noch keiner gekommen. Für viele ist jetzt das Frühstück auf dem Alexanderplatz angesagt. Für die ChronistInnen die Ausreise am Checkpoint Charly, „eine Tür weiter links“, wie der Grenzpolizist mit dem Stempel weiß.

Potsdamer Platz: Hier war einst „der Nabel der Welt“, einer der belebtesten Plätze Europas. Was wird dieses großstädtische Vakuum in Zukunft füllen? Vielleicht Betonklötze, Sozialwohnungen für all diejenigen, die angesichts der wachsenden Wohnraumnot, der jetzt zu erwartenden Boden- und Immobilienspekulation ohne Alternative auf der Straße sitzen.

Vielleicht aber auch wird aus dem Niemandsland eine verkehrsberuhigte Grünzone, wie sich viele - nicht nur Ökos aus Ost und West - erträumen.