Die Kinder von Marx und Coca Cola ziehen ab

West-Berlin am Sonntag abend: Mauerspaziergänge gehören schon zum Alltag / Die DDRler fahren zurück, hinterlassen Bananenflaggen am Brandenburger Tor, Müllspuren auf dem Kurfürstendamm und das seltsame Gefühl, alles sei doch nur ein Traum gewesen  ■  Von Ute Scheub

Berlin (taz) - Die Ostberliner Revolution hat linkerhand auch den Westberliner Alltag umgewälzt und ihm neue Rituale verschafft. Der abendliche Mauerspaziergang, der vor wenigen Tagen nur Gähnen provoziert hätte, hat den Volkssport Jogging und Fernsehen ersetzt. Im dunklen Smognebel nur schemenhaft sichtbar, schiebt sich Grüppchen um Grüppchen immer an der Wand lang und kontrolliert die Übergänge, die am Sonntag abend zu einer unerhörten Normalität zurückfinden: Ostberliner, Leipziger, Magdeburger strömen zurück, nur noch wenige Trabi-Fahrer brechen vor Beginn der neuen Arbeitswoche zu einer letzten Spritztour in die West -City auf. Deutsche Revolutionäre vergessen weder Bahnsteigkarten noch den Schichtbeginn am Montag.

Der neue Alltag, immer noch unglaublich und doch schon gewöhnlich, hat auch vor dem Brandenburger Tor Platz gegriffen. Die Spannungen über die Mauer hinweg - ein Tag zuvor ausgelöst durch flaschenschmeißende Skins, heimattreue Pfadfinder und fackeltragende CDU-Trupps - sind Lockerheit gewichen. Außer vereinzelten Vopos steht niemand mehr auf der Mauer, und die Leine, die die Westberliner Polizei einen Meter davor gezogen hat, wird respektiert. Am Samstag noch stand hier als deutsch-deutsche Groteske Wanne neben Wanne, um das DDR-Eigentum an Beton vor Besoffkis und durchgedrehten Pickelhackenschwingern zu schützen. Jetzt duckt sich nur noch alle hundert Meter ein grünes Auto schützend vor einem Loch.

Die Mauer ist schon an vielen Stellen perforiert, kleine und größere Sehschlitze machen den real revolutionierten Sozialismus zur Peepshow. Kleine Türkenjungen und amerikanische Souvenirjäger versuchen nach wie vor, mit Hammer und Hacke ein Stück historisches Bauwerk herauszubrechen. „Laßt das gefälligst!“ protestieren flanierende Westler. „Wieso? Das wird doch jetzt alles one germany.“ „Wir wollen aber keine Wiedervereinigung, verdammt. Das ist unsere Mauer, und ihr Idioten habt das zu respektieren!“ Sie hacken weiter.

Auch die Schar der Schaulustigen, die zwischen den schon fest installierten Fernsehübertragungsstationen, Klohäuschen und Würstchenbuden vor dem Brandenburger Tor hin und herwogt, ist kleiner geworden. Italienische, englische, spanische Sprachfetzen: Nun flanieren die zu spät Gekommenen Ausländer auf dem neu-europäischen Treffpunkt. Das Sächsisch von Drehorgel-Rolf aus Halle an der Saale wird ihnen wohl ziemlich quer in den Ohren liegen. Der „Weltrekordinhaber im Leierkastenspielen“ hat als erster die Gunst der Stunde erkannt, den magischen Platz vor dem Brandenburger Tor zu einer Kleinkunstbühne umzufunktionieren. „Gestern noch war Ost-Berlin am Arsch der Welt“, verkündet er seinen vergnügten Zuschauern im Halbrund, „heute ist es das Tor zur Welt.“ Nach kurzen Einlagen auf seiner Leierorgel beginnt er, seine mitgebrachten DDR-Fähnchen meistbietend zu versteigern - angesichts des drohenden DM-Aufkaufs der DDR eine symbolträchtige Geste. Sechs Mark bringt das erste Wink -Element, fünfzehn Mark das zweite. Als Ersatz steigt aus der Menge eine andere wegweisende Fahne: Dutzende gelber Bananen auf streifigem Grund. Wer ist besser: der bananenfreie Staat oder die Bananenrepublik?

Aber auch andere beweisen vor Ort die Flexibilität des Kapitalismus, aus allem und jedem gleich Profit zu schlagen. In einem umgebauten Alternativbus, ebenfalls mit DDR-Flaggen behängt, verkauft ein Pärchen zwei Tage nach der Maueröffnung bereits die ersten T-Shirts mit Großberliner Landkarten: „9.November 1989 - wir werden nie mehr auseinandergehen“.

Andernorts ist die Flexibilität des Kommerzes bereits an ihre Grenzen gelangt. Trotz der Parole „Ananas für alle“, die nahe der Philharmonie ausgegeben wurde, sind Bananen, Ananas und Süßigkeiten restlos ausverkauft. Und süchtige Raucher erleiden nie gekannte Pein, weil die meisten Zigarettenautomaten leer vor sich hingähnen. In Wohngemeinschaften werden bereits Strategien für das nächste Wochenende diskutiert, für den ein noch größerer Ansturm aus dem Osten angenommen wird: „Am besten, wir machen schon am Donnerstag Großeinkauf. Sonst müssen wir wieder stundenlang Schlange stehen.“

Im Überfluß quillt nur noch der Müll aus allen Straßen und Papierkörben. Ein Ostberliner Oppositioneller, angetreten für eine demokratische und ökologische Revolution, senkt angesichts der Versammlung von Cola- und Fantadosen an jeder Straßenecke beschämt den Kopf. Sein einziger Trost: „Frühere Revolutionen gingen über Leichen. Wir gehen nur über Cocabüchsen.“

Nachts um zwölf Uhr ist die Absperrung des Kudamms wieder aufgehoben, der Verkehr, nur noch mit wenigen Trabis durchsetzt, rollt wieder normal. Melancholische Müllatmosphäre. Plastikbecher und Pappteller liegen wie eine dichte Schneedecke auf dem Boulevard. Schätzungsweise 1.000 Tonnen Abfall zusätzlich hat der Ansturm aus dem Osten produziert, schätzt die Stadtreinigung, die schon in der Nacht mit Sonderschichten ausrückt. An der Wand der Gedächtniskirche schlägt einer noch schnell sein Wasser ab, ein paar Betrunkene torkeln, ein Mann bleibt auf seinen „Freikarten“ für die Disco nebenan sitzen, in der das Bier für 30 Ostmark angeboten wird. Auf der Schaufensterfläche, hinter der diverse Luxuskarosserien für 50.000 DM und mehr ausgestellt sind, spiegeln unzählige Fettflecken das fahle Licht - Spuren plattgedrückter Nasen. Einen letzten Lacher produziert die elektronische Nachrichtenwand am Kranzlereck mit ihrer Anspielung auf Kohls Ausspruch, die Messe in Kreisau sei der moralische Höhepunkt seiner Polenreise gewesen: „Kanzler kommt zum Höhepunkt.“

Katerstimmung? Die alte Normalität in West-Berlin ist endgültig dahin, und noch weiß niemand, wie die kommenden Probleme zu lösen sind. Aber auch Hoffnung, Neugierde, Lust auf den nächsten kulturellen Zusammenstoß zwischen Ost und West ist überall spürbar.