Das Mosaik der Qual

■ „Adam“ von Joshua Sobol in deutscher Sprache erstaufgeführt

Joshua Sobol wurde 1939 in Israel geboren und ist dort aufgewachsen. An der Sorbonne studierte er Philosophie, kehrte 1970 nach Israel zurück und schrieb für das Theater. Sobol, der sich zur israelischen Linken zählt, begann mit Dokumentarstücken über soziale Probleme. Mit den Dramen Weiningers Nacht und Ghetto versuchte er, „die schwierige Beziehung zwischen Judentum, dem Staat Israel und dem Zionismus darzustellen“. Ghetto, 1984 von Peter Zadek in Deutschland erstmals inszeniert, behandelt die Situation eines jüdischen Theaters im Ghetto von Wilna. Adam, am 10. November 1989 in Bonn in deutscher Sprache erstaufgeführt, spielt ebenfalls in diesem Ghetto.

Adam setzt ein mit einem Dilemma. Ein von der Gestapo gefangen genommener Führer der jüdischen Untergrundbewegung FPO (Fareinikter Partisaner Organizatzie) wird gezwungen, eine Folterszene im Nebenraum anzuhören. Gefoltert wird eine Frau im Beisein ihrer kleinen Tochter, und diese Frau, die keinerlei Geheimnisse preisgeben kann, da sie keine hat, soll durch ihr Leiden Adam zum Geständnis bringen. Noch während Adam mit sich ringt, klärt sein Peiniger Kittel (der auch zum Personal von Ghetto gehört) ihn über seine wahre Absicht auf: „Ich will nur eines: dir zeigen, daß du nicht besser bist als ich, denn wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß du deine Kinder mehr als deine Kameraden liebst und deine Kameraden mehr als dein übriges Volk und dein übriges Volk mehr als Fremde. (...) Du mußt einfach zugeben, daß du nie ein Menschenfreund warst und es auch nie sein kannst. Denn wer dem Schicksal eines einzigen Menschen gleichgültig gegenübersteht, der rechtfertigt die universale Gleichgültigkeit von Mensch zu Mensch.“

Natürlich fälscht Kittel die Analyse, wenn er die Zwangslage eines Verfolgten innerhalb einer Gruppe von Verfolgten gleichsetzt mit der vermeintlichen Zwangslage eines Täters innerhalb einer Gruppe von Tätern. Präzise aber stellt er das furchtbare Dilemma des verfolgten Adam dar, der zwischen dem Leiden einer ihm fremden Frau, dem möglichen Leiden seiner Familie und Genossen und seinem eigenen abzuwägen hat und, welche Möglichkeit er auch wählt, immer Leiden verursachen wird.

Adam ist ein Stück, das wie ein Mosaik der Qual aus verschiedenen Dilemmata zusammengesetzt ist. Die Situation der Handelnden, der Juden im Ghetto Wilna im Jahr 1943, ist absurd. Auf der einen Seite steht die historische Figur Jakob Gens, von den Nazis als „Gefängnisdirektor“ in Wilna ernannt, der versucht, durch Taktieren und Verhandeln möglichst viele Menschenleben zu retten. Das Ghetto soll als ruhiggestelltes Arbeitslager sein eigenes Überleben sichern, bis die Sowjetarmee Wilna befreit. Gens steht in Verbindung mit der FPO, die als Widerstandsgruppe einen bewaffneten Aufstand vorbereitet, wenn die endgültige Vernichtung des Ghettos bevorsteht. Führer dieser Gruppe ist Adam Rolnik, der dem tatsächlichen Sprecher des Kollektivs Itzig Wittenberg entspricht. Gens wie Adam Rolnik und das Kollektiv der FPO lavieren zwischen Todesangst und Todesmut, zwischen dem Ekel vor ihren Mördern und dem Ekel vor sich selbst, da sie spüren, daß sie selbst den Situationen, in die sie gebracht werden, nicht gewachsen sind.

Dies zeigt sich, als die Gestapo fordert, den Führer Adam Rolnik herauszugeben, andernfalls werde das Lager vernichtet. Das Kollektiv berät: Soll jetzt der bewaffnete Aufstand ausgerufen werden, um einigen die Flucht in die nahe gelegenen Wälder zu ermöglichen und allen einen Tod, der nicht dem eines Schlachtviehs, sondern dem eines Menschen gleicht? Die Stimmung im Ghetto spricht dagegen; die Bevölkerung ist nicht bereit, die FPO zu einem Zeitpunkt zu unterstützen, an dem sie noch hofft, die Wahl zu haben zwischen dem sicheren Blutbad eines Aufstands und der Chance eines Überlebens bis zur Befreiung. Das Kollektiv (das sich naiv und hochfahrend zugleich als moralische Elite versteht) erwägt, die Waffen gegen die eigenen, zaudernden Leute zu richten - und schreckt davor zurück. Es bleiben zwei Möglichkeiten: Selbstmord der Elite, die nicht moralisch schuldig werden will - oder die Herausgabe Adam Rolniks. In der geheimen Abstimmung erhält die zweite Möglichkeit die Mehrheit.

Diese Dilemmata sind in einer bestimmten Hinsicht nicht spezifisch. Sie haben in Israel zu einer kontroversen Diskussion des Stücks (das auf genauen Recherchen beruht und, wenn nicht die tatsächliche Abfolge der Handlung, so doch die tatsächlichen Konflikte zeigt) geführt, weil sie die Frage der Kollaboration und des Widerstands neu entfachen. In einem Aufsatz zu Ghetto weist Henryk M. Broder auf dieses Problem hin: „Die tragische Rolle der Judenräte wurde - und wird immer noch - diskutiert, nicht in apologetischer Absicht („Befehlsnotstand“), sondern in qualvoller Selbsterforschung: Was haben wir getan, was wir nicht hätten tun dürfen?“ Aber diese Frage ist eine, die aus einem jeden Dilemma dieser Art erwächst, für den französischen Widerstand hat sie Jean-Paul Sartre in seinen Dramen wieder und wieder gestellt. Spezifisch an der Situation im Ghetto und ihrem Schrecken ist die Frage, ob es den Nazis gelungen ist, „die Juden nicht nur physisch zu vernichten, sondern darüber hinaus das zu vernichten, was sie als Judentum verstanden haben - den Geist der 'Schwäche‘, die 'Moral der Sklaven‘, Begriffe einer universalen Menschenliebe und Brüderlichkeit“ (Boaz Evron). Alle handelnden Personen dieses Stücks bewegen sich an dieser Frage entlang - sie stellen sie nicht direkt, aber sie werden von ihr verfolgt, während sie Menschenleben gegen Menschenleben, Gewalt gegen ihre Leidensgenossen und gegen sich selbst abwägen.

In einer überlieferten Rede nach der erzwungenen Liquidation von 406 Juden durch die jüdische „Gefängnispolizei“ sagt Jakob Gens: „Erst wenn wir das Ghetto hinter uns gelassen haben, werden wir die ganze Qual verspüren. Heute wollen wir stark sein.„ Adam ist ein Stück über diesen Satz, denn es ist ein Stück der Erinnerung, das sich im Gedächtnis der alten Nadya abspielt. Nadya, die ehemalige geliebte Adams, ist in ihrer Wohnung in Tel Aviv zur Erinnerung verurteilt, und wieder und wieder collagiert sie Erlebtes und Gehörtes, Wirkliches und Wahrscheinliches zu einem neuen Mosaik der Qual, das sich von dem alten nur darin unterscheidet, daß seine Teile immer neu verschoben und verbunden werden. Nadya sucht die Wahrheit in den Erinnerungen, die wie ein Alp auf ihr lasten und die sie so oft erzählt hat, daß sie ihrer selbst nicht mehr sicher sein kann. Sie lebt mit den Toten mehr als mit den Lebendigen, ihr Gewissen und ihr Gedächtnis erforschend, und treibt ihren Mann damit in hilflosen Zorn. Denn Sep, auch er ein Überlebender, versucht die Flucht nach vorn vielleicht, weil er nicht zu den Privilegierten des Schreckens gehört, welche diese Art von heiklem Schmerz empfinden dürfen: „Adam ist ein Erste-Klasse-Überlebender, ich weiß, er ist ein Nationalheld; du bist ein Zweite-Klasse -Überlebender, weil du unsere Ehre gerettet hast, ich bin dritte Klasse, weil ich nur mich selbst gerettet habe, sag es!“ Damit ist Sobol im Heute angelangt, jene Wahrheit verstärkend, auf der sein Stück beruht: Die Gegenwart ist die Narbe der Vergangenheit.

Adam ist wie Ghetto ein Stück, das in der Vielzahl der Probleme, die es aufwirft, hohe Ansprüche an seine Inszenierung stellt. Der Bochumer Regisseur David Mouchtar -Samorai hat hier ebenso diskret wie umfassend versagt; diskret, weil er die Regie aufs äußerste zurücknimmt (bis auf wenige, allerdings unsinnige Textänderungen), umfassend, weil seine Inszenierung unberührt läßt. Er hat für sein Theater die geringste seiner Möglichkeiten gewählt, zugleich die schwierigste: Realismus. Das geht - wenn der Text faszinierend und dicht, wenn die Schauspieler großartig und bedingungslos sind. Das verläßt sich auf den einfachsten aller Impulse: Miterleben, Miterleiden. Ein Spiel mit den einfachsten Mitteln und dem höchsten Risiko, und er hat es verloren. Viele Schauspieler (überragend: Luise Prasser als alte Nadya) sprechen so unbeholfen, spielen so laienhaft, daß man das Papier ihres Textes rascheln hört, sie sind keine Persönlichkeiten, sondern Rollenträger eines Lehrstücks, das realistisch sein will. Mouchtar-Samorai ist es nicht gelungen, die Not zu zeigen, die alle Opfer treibt: Der Raum, in dem sie sich befinden (abstrakt und nichtssagend: Kazuko Watanabe), bleibt eine tote Bühne. Adam braucht viele neue Inszenierungen.

Elke Schmitter