: Ein bitterer Nachgeschmack
Adam Krzeminski, Deutschlandexperte der polnischen Wochenzeitung 'Polityka‘ (der PVAP nahestehend), über den Besuch von Bundeskanzler Kohl in Polen ■ D O K U M E N T A T I O N
Der Besuch Helmut Kohls in Polen ist historisch geworden, aber nicht wegen der Worte und Gesten des Kanzlers in Polen, sondern wegen der Öffnung der Berliner Mauer. Man kann sich schwerlich ein besseres Symbol dafür vorstellen, wie wichtig die DDR heute für die deutsch-polnischen Beziehungen ist. Die ereignen sich im Dreieck: Bundesrepublik, DDR, Polen; und die Unterbrechung des Besuchs bei uns durch den Kanzler, so verständlich und einleuchtend sie ist, erwies sich als vielsagender als die Umarmung Premier Mazowieckis in Kreisau -Krzyzowa zum Zeichen des Friedens.
Es war eine „historische“ Visite auch wegen ihrer eigenen Vorgeschichte, jener Kette von Mißverständnissen und Irritationen, die daher rühren, daß der Kanzler einfach zuviel auf einmal erreichen wollte: zwei Regierungen und zwei Völker zu versöhnen, die polnische Mehrheit mit der deutschen Minderheit, und das alles möglichst unter dem Beifall der deutschen Vertriebenenverbände. Zuviel auf einmal.
Zu groß ist auch der Unterschied der Lage und Möglichkeiten der beiden Staaten und Gesellschaften. Schon das Aussehen beider Regierungschefs vor der Ehrengarde auf dem Flughafen war vielsagend: das konzentrierte, kummervolle Gesicht Tadeusz Mazowieckis, dessen Haare vom Wind zerzaust wurden, sein eindringlicher Blick, eine Grimasse im Mundwinkel, neben dem deutschen Kanzler, der, einen halben Kopf größer, mit leerem Blick und jovialem Gesichtsausdruck, ein bißchen zu schwer wirkend sich die Lippen leckt, als schmecke er seine Worte. Auf diesem Gesicht zeigt sich tatsächlich die „Gnade der späten Geburt“ - mit diesem Ausdruck hat sich der Kanzler während seines Jerusalem-Besuchs von einem möglichen Schuldgefühl für den Nationalsozialismus distanziert.
Der Besuch begann nicht in der besten Atmosphäre, obwohl der Streit über den Besuch des St. Annabergs in Schlesien dem Kanzler einige Sympathie dafür verschaffte, daß er nachgab. Das heißt, der Streit wurde beendet, aber stückweise. Einen bitteren Nachgeschmack hinterließ auch der immer noch nicht beendete Grenzstreit. Soll heißen, dieser Streit ist an sich beendet, aber auf eine kleinliche Art und Weise. Am Vortag des Besuchs kam es im Bundestag zu einer Auseinandersetzung zwischen den Koalitionspartnern. Die Christdemokraten wollten in die Resolution nicht jene Worte aufnehmen, die Außenminister Genscher von der UNO-Tribüne an Außenminister Skubiszewski gerichtet hatte: „Ihr Volk soll wissen, daß sein Recht auf ein Leben in sicheren Grenzen von uns Deutschen weder jetzt noch in der Zukunft durch territoriale Forderungen in Frage gestellt wird.“
Am Ende unterstützte die CDU diese Deklaration, aber der Kanzler hat sie in Warschau nicht wiederholt, er hat auch nicht gesagt, daß seine Regierung alles tun wird, daß in einem künftigen Friedensvertrag die Oder-Neiße-Grenze bestätigt wird. Es ist offensichtlich, daß dies, käme es zu einem Friedensvertrag, geschähe. Aber wer zu symbolischen Gesten Zuflucht nimmt, sollte selbst den Schatten von Zweideutigkeit vermeiden.
Statt dessen finden solche Zweideutigkeiten statt, Reinfälle und Irritationen, die anschließend der Sprecher der Bundesregierung Hans Klein bagatellisiert mit der einfachen Formel: „Bei dem ganzen Theater handelt es sich nur um den Versuch, den katholischen Publizisten Mazowiecki in die Pfanne zu hauen.“ Zum Glück hat die polnische Regierungssprecherin Malgorzata Niezabitowska ruhig und deutlich erklärt, daß es in der Grenzfrage zwischen Solidarnosc und den Kommunisten keine Meinungsverschiedenheiten gibt, wie es keine gab zwischen Gomulka und Kardinal Wyszynski. Auch in der Frage der Entschädigungen für die ehemaligen Gefangenen deutscher Konzentrationslager und die Zwangsarbeiter erwies sich Premier Mazowiecki als eindeutig und standfest.
Vielleicht war es dieses Überspannen des Bogens jenes zwanzig Jahre alten Vertrags, das der feierlichen Umarmung des deutschen Kanzlers mit dem polnischen Premier am Altar von Kreisau nicht jene psychische Energie entlockte, die 20 Jahre zuvor Willy Brandts Kniefall in Warschau freigesetzt hatte. Natürlich kann man nichts kopieren. Wahr ist, daß Kreisau ein guter Ort für ein Friedenszeichen ist - er erinnert an das Opfer jener, die sich der nationalsozialistischen Diktatur entgegestellten, er erinnert an moralische Werte des Individuums im Staat. Es ist eher eine christliche denn eine politische Geste. Um so mehr, als es eine, wie Bischof Nossol sagte, „politisch schwierige Visite“ war, wovon zum Beispiel jenes deutsche Transparent zeugt, das während der Messe aufgespannt wurde: „Helmut - du bist unser Kanzler“. Als einer der westdeutschen Korrespondenten das auf dem Bildschirm im Pressezentrum sah, stöhnte er: „Die werden doch da nicht in den Uniformen der Schützenkapelle vom St. Annaberg auftreten.“
Für uns kann es bedeutungsvoll sein, daß die Berliner Brandt enthusiastisch begrüßten, daß sie Genscher „Bravo“ zuriefen - auch, als er von der polnischen Grenze sprach -, aber den Kanzler ausgepfiffen haben. Der 9. November ist ein historisches Datum, aber nicht so, wie manche sich das vorstellen: Zur Wiedervereinigung ist es noch weit, und die SED hat, indem sie sich für das Unvorstellbare entschied, eine Menge Punkte gesammelt. Die folgenden Monate werden ein faszinierendes Wettrennen um die Idendität unserer Nachbarn werden. Am Ziel kann sowohl ein Status wie der Österreichs als auch eine Wiedervereinigung in Form einer Föderation herauskommen.
In einem ersten Reflex kann man sagen: Schade, daß uns die DDR ins zweite Glied in Europa zurückgedrängt hat. „Da gibt es nichts zu verheimlichen, zunächst einmal kann die Öffnung der DDR für uns negative Folgen haben, was unsere Beziehungen zur Bundesrepublik anbelangt.“ Der Vorsitzende einer deutschen Bank erklärte geradeheraus: „Wir müssen uns umsehen, welche Bedeutung für uns die sächsische Industrie haben kann.“ Firmen, die die Wahl haben, entweder in Polen oder in der DDR zu investieren, werden selbstverständlich den zweiten deutschen Staat vorziehen - mit Rücksicht auf die Sprache, eine entsprechende technische Kultur, die Entfernung und Logistik. Aber es stimmt auch, daß die während des Kohl-Besuchs unterschriebenen Übereinkommen die Konjunktur unserer Zusammenarbeit ankurbeln, unabhängig von den Verbindungen der Bundesrepublik mit anderen Staaten.
Die polnisch-deutschen Perspektiven sehen aus wie dieser Besuch: Sie sind nicht dauerhaft und nicht eindeutig. Einerseits gibt es den guten Willen vieler Menschen, andererseits haben gute Beziehungen zu Polen für andere keinen Wert an sich, sie sind nur die Funktion einer höheren Notwendigkeit. Auf der einen Seite erfreut sich Polen einer Sympathie als Vorreiter mittelosteuropäischer Reformen, die zur Annäherung beider Deutschlands führten, auf der anderen Seite hat Polen einen ziemlich zweifelhaften Ruf unter Geschäftsleuten. Am Flughafen belauschte ich die Unterhaltung zwischen zwei mittleren Angestellten: „Wie kann man schnell Geld machen? Indem man in Polen Pleite macht.“ Soll heißen, indem man die Regierungsgarantien ausnützt. Es gibt Deutsche, die, wie ein bestimmter Landesminister, empört sind über eine deutsche Firma, die ein Joint-venture mit Polen eingegangen ist, aber unter solchen Bedingungen, daß wir nur die Betonsockel für die deutschen Maschinen bauen, obwohl wir nur 30 Prozent der deutschen Technologie bräuchten, um die gleichen Maschinen selbständig nachzubauen. Aber der deutsche Geschäftsmann erklärte seinem Minister offen: „Soll ich mir selbst einen Konkurrenten heranziehen?“ Solcherlei Gerüchte und Ansichten schaffen eine konkretere Stimmung als die Gesten der Herrschenden. „Das ist doch Afrikanisierung. So ist die Entwicklungshilfe für die Dritte Welt den Bach hinuntergegangen“, rief empört derjenige, der mir die Anekdote erzählte. Kanzler Kohl sagt, Polen brauche „Hilfe zur Selbsthilfe“. So ist es.
Unser Kampf um die Zukunft ist nicht verloren, und der Besuch Kohls ist kein Umbruch, sondern nur ein Schritt nach vorne auf einem verminten Feld von Ressentiments, Mißtrauen, Unwissen, zivilisatorischen Ungleichheiten und historisch begründeten Ängsten. „Ob die uns nicht einsacken?“ „Entsteht nicht womöglich eine neue Kolonisierung mit deutschem Recht?“ „Mit wem wird es die deutsche Minderheit halten, mit Grass oder mit Hupka?“ Schon heute kann man im westdeutschen Fernsehen Sprecher der deutschen Minderheit sehen, die sagen: „Wir standen schon immer zivilisatorisch höher als die Polen, die sollen von uns lernen.“
Probleme, Ängste und Streitpunkte gibt es viele - einige sind real, andere rühren allzusehr aus historischen Phobien. Es wäre fatal, würden wir jetzt in Polen aus dem „deutschen Problem“ in unserem Bewußtsein ein Element des politischen Kampfes zwischen den Parteien machen. Wir können nichts gewinnen, indem wir die „deutsche Frage“ in innenpolitischen Reibereien ausnützen.
Übersetzung: Klaus Bachmann
Der Leitartikel Adam Krzeminskis erscheint heute auch in der 'Polityka‘
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