Mordfall Schmücker - Die Waffe im „Paket“

Die tödliche „Chance“ für Schmücker, sich in der Szene zu rehabilitieren / Eine Pistole wird beschafft / Berliner Verfassungsschutz setzt Großobservation in Gang  ■  Von Jerry Cotton

Einig ist man sich darin, daß Schmücker in der Linken isoliert werden müsse. Keinen Konsens aber gibt es bei dem Wunsch, der „2.Juni“ möge den Wolfsburgern mit Waffen und Know-how unter die Arme greifen. Die Berliner lehnen ab. Ein Kneipentreffen zwischen beiden Gruppen endet damit, daß man vorerst einmal nur losen Kontakt halten will.

Fortan gehen auch die Wolfsburger auf Distanz zu Schmücker

-bis auf Tilgner. Bei dem beklagt sich Schmücker dann auch, daß er sich jetzt nirgendwo mehr sehen lassen könne, zweimal sei er in der Szene bereits körperlich angegriffen worden, so unlängst auf dem Kreuzberger Mariannenplatz.

In seiner Aussage vor der Staatsanwaltschaft behauptet Tilgner später, während er Schmücker noch Mut gemacht habe, sei parallel bereits an den Thesen, mit denen dann Schmückers Todesurteil begründet werden sollte, gebastelt worden. Danach hätten die Wolfsburger im März Schmücker unter Druck gesetzt, einen Fragebogen auszufüllen, den sie vorher mit seiner (Tilgners) tatkräftiger Unterstützung erstellt haben sollen. Inhalt des Fragebogens, der jetzt Bestandteil der Prozeßakten ist: „Welches waren deine Beweggründe, den Strafverfolgungsbehörden Auskunft über die Organisation Bewegung 2.Juni zu geben?“ Auf sieben Seiten beantwortet Schmücker die insgesamt sechs Fragen, an die das „Kommando Schwarzer Juni“ noch ein Resümee sowie Teile jener Aussagen anheftet, die Schmücker seinerzeit vor dem Staatsanwalt Braun gemacht hat.

Komplizierte Beziehungen zu den Wolfsburgern

Nach seiner Verhaftung im Juli 1974 erklärt Tilgner vor der Polizei, daß jenes Schreiben des „Kommando schwarzer Juni“, das die 'Frankfurter Rundschau‘ und 'dpa‘ einen Tag nach der Erschießung Schmückers am 6.Juni 1974 zugegangen ist, nahezu identisch sei mit jenem, das er zusammen mit Teilen der Wolfsburger und im ständigen Pendeln zwischen Wolfsburg und Berlin entworfen hat.

Tilgner, der gerne ein Bier mehr trinkt, als er verträgt, beklagt sich ab Ende März immer häufiger bei seinem Freund Volker Weingraber, während der in der „Tarantel“ kellnert, über die komplizierte Beziehung zu den Wolfsburgern. Und überhaupt, so verklickert Tilgner seinem Freund Weingraber, sei er skeptisch, ob die Wolfsburger denn zu einer militanten Aktion fähig wären. Weingraber weiß, worum es geht. Tilgner hat ihm bereits erzählt, daß man mit Schmücker „was vorhat“. Für den 12.April, so weiht er Weingraber ein, habe man in der „Tarantel“ ein „Date mit Schmücker“ abgemacht. Ein Teil der Wolfsburger, die ihn noch nicht persönlich kennen, wolle sich ihn ansehen, allerdings ohne daß Schmücker davon etwas merke.

Über dieses Treffen existieren nicht nur Aussagen des Genossen Tilgner, sondern auch ein Observationsbericht des Berliner Verfassungsschutzes. Als sich Schmücker an jenem Abend mit der WG-Mutter Ilse und Tilgner in der „Tarantel“ trifft, werden sie nicht nur von einem anderen Tisch unbemerkt von Schmücker - von drei Wolfsburgern beobachtet. Auch die drei „Observanten“ werden observiert: Der Berliner Verfassungsschutz ist mit von der Partie. In dessen Bericht heißt es über den Abend: Schmücker traf sich mit Ilse Jandt, geschiedene Bongartz, und Götz Tilgner in dem als Anarcho -Treff bekannten Lokal „Tarantel“.

Über das Gespräch selbst berichtet Tilgner später den Vernehmungsbeamten, Ilse habe dem abtrünnigen Schmücker folgendes Angebot gemacht: Man traue ihm zwar nicht, aber er habe noch eine Chance, sich zu rehabilitieren - zum Beispiel bei der IRA. Ein Treffen mit einem Kontaktmann solle in Köln stattfinden, dahin müsse Schmücker dann fahren, den Termin bekomme er noch mitgeteilt. Schmücker habe eingewilligt. Am anderen Tag holt sich Ilse, die bei Tilgner übernachtet, beim Genossen Weingraber dessen Schreibmaschine ab. Auf Weingrabers elektrischer Schreibmaschine habe sie das handschriftliche Geständnis Schmückers auf eine Matritze tippen wollen, um es später vervielfältigen zu können. Weingraber trägt ihr dann noch das Kabel hinterher, das sie bei ihm vergessen hat.

Der „2.Juni“ will

keine Waffe liefern

Schmücker solle erschossen werden, offenbart Tilgner laut eigener Aussage dann Anfang Mai dem Freund Weingraber. Aber man habe noch keine Waffe. Weingraber möge doch versuchen, da etwas zu besorgen. Helfen könne auch schon, wenn Weingraber ihm sein Kleinkalibergewehr der Marke „Landmann Pretz“ überließe, das dieser ihm erst unlängst gezeigt hat. Am besten eigneten sich aber, so Tilgners Begehren, ein Revolver und eine Maschinenpistole. Die Waffen benötige man aber möglichst bald. Weingraber verspricht dem Genossen Tilgner, sich darum zu kümmern, allerdings gehe das nicht so schnell.

Eine andere Quelle zur Waffenbeschaffung hat sich nämlich als dicht erwiesen: Auch bei einem der wenigen weiteren Treffen weigert sich der „2.Juni“, der Gruppe um Ilse Waffen zu überlassen. Sie und ihre Truppe sollten sich erst einmal als „Revolutionäre bewähren“, läßt man die Wolfsburger wissen, nicht ohne sie aufs neue wegen ihrer unsicheren Kantonisten und mangelnden Coolness zu kritisieren.

In Wolfsburg hat derweil Jürgen Bodeux bei Ilse den Platz eingenommen, den zuvor noch Tilgner innehatte. Das bringt Zoff: Ein erneuter Besuch von Tilgner, bei dem die Aktion gegen Schmücker in Köln dingfest gemacht werden sollte, ist nach Angaben Tilgners nach nur einem Tag schon beendet gewesen. Denn der ist sauer auf Bodeux, und im übrigen erscheine ihm die ganze Schmücker-Sache inzwischen als viel zu heiß. Knall und Fall verläßt er die Wolfsburger Kommune. Das empfinden diese nicht als großen Verlust, da Bodeux, wie er später im Prozeß behauptet, bereits mitgebracht hat, was die Wolfsburger eigentlich von Tilgner erhofft hatten: Eine Pistole.

„Ilse, du bist ziemlich naiv“

Danach hat ein Schulfreund von Bodeux eine zwar angerostete, aber voll funktionsfähige Pistole der Marke P 08 Kaliber 9 Millimeter von seinem Vater, einem Förster, im Kölner Raum geklaut. Doch durch den Abgang Tilgners ist die Aktion gegen Schmücker in Köln zunächst erst mal geplatzt.

In einem Rechtfertigungsbrief an Ilse schreibt Tilgner wenig später zu seinem Ausstieg aus der Wolfsburger Gruppe: „Ilse, du verhältst dich genauso, wie es die Bullen von dir erwarten. Du dienst als Lockvogel - und wirst meine Bedenken als Verfolgungswahn abtun. Manchmal bist du ziemlich naiv und zwar in äußerst gefährlicher Form.“

Das kann Ilse allerdings überhaupt nicht einsehen. Schließlich hat sie „alles gute Genossen“ um sich herum, und überhaupt sei man bislang doch „sehr cool“ geblieben. Den Aussagen Bodeuxs zufolge werkeln die Wolfsburger jedenfalls unverdrossen an der Aktion gegen Schmücker weiter. Was sie nicht gewußt haben, ist, daß Tilgners vermeintlicher Verfolgungswahn eine sehr reale Grundlage hat. Tatsächlich spielt der Verfassungsschutz bereits mit.

Heute steht fest, daß jeder Schritt der Gruppe und ihres potentiellen Opfers unter Beobachtung und teilweiser Mitwirkung der Staatsgewalt abgelaufen ist. Und das kommt so: Das Jahr 1973 ist außerordentlich erfolgreich für die „Anti-Terrorjäger“ der Staatsschutzabteilungen der Länder, wie auch für das Bundeskriminalamt. Immer mehr hat sich auch der Verfassungsschutz an die Zirkel der militanten Illegalen herangearbeitet. Das Gründungsmitglied des „2.Juni“, Heinz Brockmann, wird im Mai 1973 in Berlin im Bett seiner Freundin verhaftet und beginnt im August, umfangreiche Aussagen zu machen. Dabei belastet er einige Genossen, die bereits im Knast sitzen, erneut schwer, und schließlich ermöglichen seine Aussagen auch die Festnahme eines Führungsmitglieds des „2.Juni“, Ina Siepmann. Die „Bewegung“ verliert gut ein halbes Dutzend illegaler Stützpunkte, darunter auch eine konspirativ angemietete komplette Druckerei in der Oranienstraße.

Der Verfassungsschutz

ist immer dabei

Noch erfolgreicher agieren BKA und Verfassungsschutz um die Jahreswende 1973/74 gegen die RAF. Knapp ein halbes Jahr ist der Verfassungsschutz mit dabeigewesen, als die RAF sich nach den Verhaftungen 1972 anschickt, sich neu zu organisieren. Der Verfassungschutz beobachtet das Sammeln der RAF-Leute aus nächster Nähe: Sämtliche Stützpunkte, so in Hamburg und Frankfurt, sind verwanzt und die Telefonleitungen angezapft.

Auf Schritt und Tritt folgen die Agenten des Verfassungsschutzes den RAFlern quer durch die Republik. Anfang Februar 1974 geht es bei der RAF um zwei „Geldkisten“ - Banküberfälle in Hamburg und Kiel stehen an. Am 4.Februar um vier Uhr morgens schlägt die Staatsgewalt zu: In Hamburg werden Ilse Stachowiak, Christa Eckes, Helmut Pohl und der Rechtsanwalt Eberhard Becker aus Heidelberg verhaftet. Zur selben Zeit in Frankfurt: Margit Schiller, Kai Allnacht und Wolfgang Beer. In den konspirativen Wohnungen gerät den Fahndern zusätzlich ein umfangreiches Waffenlager inklusive 30 Handgranaten und zwei Tretminen in die Hände.

Das Jahr 1974 fängt für die „Terroristenfahnder“ also gut an. In Berlin, so heißt es im Polizeibericht, agieren aber noch immer einige „altgediente Leute des 2.Juni im Untergrund“. Zudem, so die Polizeianalyse, habe sich die Gruppe durch den Gefängnisausbruch zweier ihrer Mitglieder im Herbst 1973 wieder verstärkt. „Das ist die Stunde für unseren besten Mann“, so der SPD-Innensenator Neubauer 1974, nämlich für den Oberamtsrat im Berliner Landesamt für Verfassungsschutz Michael Grünhagen. Der hat nicht nur den Ex-Anarcho Schmücker an der Leine, sondern auch noch mindestens einen weiteren Agenten ganz dicht an der militanten Berliner Szene dran.

Weder dem Verfassungsschutz noch der Abteilung Staatsschutz der Berliner Polizei ist es nämlich bis dahin gelungen, an die gesuchten Leute vom „2.Juni“ heranzukommen. Im März 1974 melden jedoch gleich zwei V-Leute ihrem V-Mann-Führer Grünhagen, daß man im Umfeld des „2.Juni“ Aktionen plane. Mitmischen würden dabei wahrscheinlich auch gesuchte Leute des „2.Juni“. Diese Kenntnis verdankt Grünhagen am allerwenigsten seinem Gelegenheitsinformanten Schmücker. Auf dem laufenden gehalten wird er vielmehr von dem guten Genossen Volker von Weingraber, der in der „Tarantel“ vom Verfassungsschutz an einem strategische günstigen Punkt plaziert worden ist und unter dem Decknamen „Wien“ seit längerem auf der Gehaltsliste des Amtes steht.

Der Berliner Verfassungsschutz setzt eine Großobservation in Gang. Sowohl Grünhagen als auch der damalige Verfassungsschutzchef Natusch haben vor Gericht zugegeben, daß sie, nachdem Schmücker meldet, Ilse Bongartz samt Anhang habe einen Kontakt mit der gesuchten Inge Viet in Aussicht, einen „großen Schlag“ gewittert hätten. Warum sollte in Berlin nicht gelingen, was unlängst in Hamburg und Frankfurt so vortrefflich abgelaufen ist?

In der Person von Ilse B. und ihren Genossen sehen die Geheimen das ideale Medium, um an jene heranzukommen, durch deren Verhaftung das „Problem Terrorismus“ wenn nicht „erledigt“, so doch erheblich geschwächt werden könnte.

„Wien“ mit direktem Draht nach Wolfsburg

Warum also nur ein paar Randfiguren festnehmen, wenn vielleicht erheblich mehr in die Falle laufen könnten. Schließlich kommt es jetzt nur darauf an, die Finger im heißen Brei zu halten. Und das geht gut an, denn im direkten Draht zu den Wolfsburgern sitzt der V-Mann „Wien“. In der Hauptverhandlung gibt Bodeux später zu Protokoll, er sei am 3.Juni 1974 zusammen mit Ilse B. nach Berlin gefahren. Laut dieser Aussage fahren sie zur Wohnung des „Genossen“ Weingraber und leihen sich für den Nachmittag dessen gelben VW-Bus, mit dem sie sogleich zu einer Visite an die Krumme Lanke aufbrechen. Dort angekommen sehen sie sich erst einmal gründlich um und spazieren dann langsam von der Südspitze her auf der linken Seeseite in Richtung Norden. Auf halber Strecke um den See legen sie auf einer der Bänke am See eine Pause ein, bevor sie dann wieder zum Auto zurückkehren.

Am Morgen des 4.Juni trifft dann noch einer der Wolfsburger in Berlin bei Weingraber ein: der mutmaßliche spätere Todesschütze W. Noch am Vormittag fährt Bodeux erneut an die Krumme Lanke - mit im gelben VW-Bus diesmal W. Auch diese beiden spazieren nicht lange am See entlang, sondern machen sich schon nach 30 Minuten wieder auf den Weg zur Wohnung Weingrabers, wo Ilse B. bereits wartet. Gegen Mittag des selben Tages bringt Weingraber Ilse und Bodeux zum Bahnhof Zoo. Sie fahren wieder nach Wolfsburg. Zurück in Berlin lassen die Abreisenden W. Diese Version wird auch durch VS -Chef Natusch gestützt: Spätestens seit dem 31.Mai hat sich das „Amt“ ständig an Schmückers Fersen geheftet. Am 3.Juni „begleiten“ die Beamten Ilse und Bodeux an die Krumme Lanke.

Nach Aussagen des späteren Kronzeugen Jürgen Bodeux trifft W. erst am frühen Morgen des nächsten Tages, am 5.Juni, wieder in Wolfsburg ein.

In der ersten Hauptverhandlung gegen die Wolfsburger am 17.Februar 1976 schildert Bodeux dessen Rückkehr dann aus seiner Sicht: W. habe erzählt, was in der Nacht in Berlin abgelaufen sei. Er habe sich das Auto, den „Tarantel-Bus“, von Weingraber geliehen und dafür irgendeinen Vorwand benutzt. Mit diesem Fahrzeug sei er dann zur Krummen Lanke gefahren und habe es auf einen Parkplatz in der Nähe des Sees abgestellt. An dem von Ilse beschriebenen Tulpenschild habe er auf Schmücker gewartet, der dort auch kurz nach 22 Uhr eingetroffen sein soll. Nach Nennung des Codewortes „Hundert Blumen“ habe W. Schmücker erklärt, er sei nur ein Verbindungsmann und die eigentlichen Gesprächspartner würden noch kommen. Ohne nennenswerte Unterhaltung will er mit Schmücker in der Nähe des Sees spazierengegangen sein und an einer ihm günstig erschienenen Stelle habe er die Pistole 08 aus dem Parker genommen und aus einer Entfernung von etwa fünf Metern auf Schmücker einen Schuß abgegeben. W. will gesehen haben, daß er ihn ins Gesicht getroffen hat und daß sich Schmücker nicht mehr bewegte. Vom Ort der Erschießung, so Bodeux in seiner Aussage weiter, sei er dann zum gelben Bus gegangen und zum Bahnhof Zoo abgefahren.

(Fortsetzung folgt)