Deutscher November

■ Der niederländische Autor war während der Maueröffnung in West-Berlin und hat seine Eindrücke notiert

Cees Nooteboom

Wie sieht ein Fisch den Fluß, in dem er schwimmt? Er kann nicht raus, um Abstand zu nehmen. So etwas ist hier in Berlin los. Alles fließt. Jeden Augenblick gibt es neue Ereignisse, Berichte; wenn ich aus dem Haus gehe, bin ich innerhalb weniger Minuten Teil einer wogenden Menge, wird mir mit Schlagzeilen zugeschrieen: Abschied von der Insel. Deutschland umarmt sich. Das Volk hat gesiegt. Achthunderttausend eroberten West-Berlin. Vor und in den Banken und Postämtern lange Reihen von DDR-Bürgern, die ihr Begrüßungsgeld abholen. Alte Leute mit verstörten Blicken, die zum erstenmal seit fast dreißig Jahren wieder in diesem Teil der Stadt sind, auf der Suche nach ihren Erinnerungen, junge Leute, die nach dem Mauerbau geboren wurden und vielleicht nur einen Kilometer weit weg wohnen, bewegen sich in einer Welt, die sie nie gesehen haben, und sie laufen, als könne der Asphalt sie nicht tragen.

Während ich dies schreibe, läuten rundherum die Kirchenglocken, so wie diese Woche, als die Glocken der Gedächtniskirche plötzlich in Bronze die Nachricht von der geöffneten Mauer über die Stadt ergossen, und die Leute auf der Straße knieten und weinten. Sichtbare Geschichte hat immer etwas Ekstatisches, Ergreifendes, Beängstigendes. Niemand kann sich dem entziehen. Und niemand weiß, was geschehen wird, Berlin ist eine Stadt, die viel mitgemacht hat. Zehntausende strömen durch die östlichen Schleusen in den Westen, sie bringen ihre Gefühle mit, als seien es tastbare Dinge, ihre Emotionen widerspiegeln sich in den Gesichtern der Menschen auf dieser Seite, die vom Geräusch ihrer eigenen Millionen Schritte in den gesperrten Straßen angetrieben werden, von Sirenen und Kirchenglocken, von den Stimmen mit ihren Fragen und Gerüchten, den ungeschriebenen Worten des von keinem ausgedachten Szenarios. Von keinem, und von jedem. Wir sind das Volk skandierten die Menschen noch vor zwei Wochen in Leipzig. Jetzt sind sie hier, und sie haben ihre Oberhäupter zu Hause gelassen.

Am 4. November war die große Demonstration in Ost-Berlin. Die Fotografin Simone Sassen war zum Grenzübergang Friedrichstraße gefahren, wurde aber von den Grenzbeamten mit sicherem Blick herausgepickt. Nein, sie dürfe nicht einreisen. „Warum dürfen dann die anderen? Ich warte hier auch schon eineinhalb Stunden.“ „Es tut uns leid, aber wir brauchen keine Begründung zu geben. Versuchen Sie es morgen noch einmal.“ Ich hatte in dem Augenblick eine andere Mission zu erfüllen, einige Lesungen im fernen Westen, in Aachen, Köln, Frankfurt, Essen. Aber auch da war Berlin stets gegenwärtig, bei allen Gesprächen. Montag abend war es Essen, das düstere Herz des Ruhrgebiets. Nach der Lesung ein Gespräch in einer düsteren Kneipe, Erbsensuppe, Schlachteplatte, Bier in großen Gläsern. Einige junge Leute, ein Mädchen vom Theater, ein Buchhändler, ein Biochemiker, ein Schriftsteller. Immer die gleichen Wörter, Übersiedler, Aussiedler, Wiedervereinigung. Hat man in Holland nicht Angst vor der Wiedervereinigung? Nein? „Aber wir. Wir wollen nicht vereint werden, und schon gar nicht mit diesen Preußen und Sachsen. Die wurden autoritär erzogen, die können nicht anders. Die stehen morgens schon um sechs Uhr am Fabriktor. Was haben wir mit denen zu tun? Das sind andere Deutsche. Zehn Prozent dieser Leute würden die Republikaner wählen und sechzig Prozent die CDU, das wissen wir schon, da gab es Meinungsumfragen. Dann wird Deutschland wieder ein großes Land, dann ziehen wir wieder gen Osten, zu den Polen und den Russen. Darüber würde sich Europa freuen, ist es das, was ihr wollt? Dann verschiebt sich das ganze Gleichgewicht, dann müssen wir wieder eine große Nation werden.“

Ich kann nur antworten, daß sie das schon sind, daß es ihr eigenes spezifisches Gewicht ist, das der künstlichen Teilung ein Ende bereiten wird. Große Länder haben ihre eigenen Schwerkraft, früher oder später zerrt die an allem, das Gewicht sucht seine eigenen Wege, es wird Sache der Deutschen sein, damit umzugehen. Nach dem Gespräch werde ich zum Zug nach Köln gebracht, dem letzten, eine Art Straßenbahn. Es wird eine qualvolle Fahrt. Die Bahn ist leer und kalt und hält überall, auch wenn kein Mensch zu sehen ist. Draußen die düsteren Umrisse der Großindustrien, Höllenflammen in der Nacht. Bei Düsseldorf gibt es eine Bombendrohung, dann bleiben wir inmitten einer todstillen Unsichtbarkeit stehen. In meinem Wagen sitzt niemand, ich höre die alte Stimme des schwer atmenden Fahrers durch den Lautsprecher.

Bombendrohung. Endlos lange bleiben wir stehen, und ob es von der Nacht kommt oder davon, daß ich allein bin, vom Gespräch dieses Abends oder von meinem Alter: Ich muß an den Krieg denken, an die Saugkraft dieses fremden Landes, das immer, ob es will oder nicht, andere Länder in sein Schicksal mit hineinzieht.

Donnerstag abend. Ich bin wieder in Berlin und mit Fotografin und Freund im Taxi unterwegs. Wir unterhalten uns, und auf einmal höre ich in der Stimme aus dem Autoradio etwas, was ich wiedererkenne. Es ist der plärrende, gehetzte, sich selbst noch nicht glaubende Ton großer Ereignisse. Der Taxifahrer ist ein Mädchen, ich bitte sie, das Radio etwas lauter zu stellen, doch das ist nicht mehr nötig, sie erzählt uns von selbst die Neuigkeit, nachdem sie weiß, daß wir sie verstehen. Sie ist aufgeregt, wirft ihre blonden Haare zurück, schreit beinah. Die Mauer sei geöffnet, alle seien auf dem Weg zum Brandenburger Tor, ganz Berlin sei auf den Beinen, wenn wir wollten, würde sie auch hinfahren, sie wollte es auch sehen; wenn es uns nichts ausmache, jetzt dahin zu fahren, würde sie den Zähler abstellen. Der Verkehrsstrom wird zusehends zäher, schon hundert Meter nach der Siegessäule kommt man kaum mehr weiter. In dem qualmenden Trabant neben uns zeigen uns junge DDR-Bürger ihr Visum, ihre Gesichter sind in den nächtlichen Lampen bleich vor Aufregung. Ich sage dem Mädchen, daß sie besser über die John-Forster-Dulles-Allee fahren könnte. Dulles, Reichstag, Krieg, kalter Krieg, hier kann man nichts sagen ohne in einer Vergangenheit zu sprechen. Das düstere Schiff des Reichstags liegt in einem Menschenmeer, alle ziehen zu den hohen Säulen des Tors hinauf, zu den rasenden Pferden ganz oben, die früher in die andere Richtung stürmten. Das Schafott, von dem man Unter den Linden überblicken kann, schwankt unter dem Gewicht der Menschen, mühsam kämpfen wir uns hinauf, jedesmal wenn jemand

herunterkommt, rücken wir wieder um einen Körper auf. Der leere Halbkreis vor den Säulen wird von einem unechten, orangefarbenen Licht angestrahlt, die Phalanx der Grenzsoldaten in diesem Kreis sieht aus wie eine ohnmächtige Reihe gegen die Gewalt der Menge auf unserer Seite. Jedesmal wenn ein Jugendlicher auf die Mauer klettert, versuchen sie ihn herunterzuspritzen, doch der Strahl ist meistens nicht stark genug, und die einsame Gestalt bleibt stehen, triefend naß, ein lebendiges Denkmal in einer Aura weiß beleuchteten Schaumes. Geschrei, Gejohle, das hundertfache Blitzlicht der Kameras, als sei der Stein der Mauer schon durchsichtig, als bestünde er schon fast nicht mehr. Die Jugend tanzt in ihren Wasserstrahlen, die empfindliche Reihe der Soldaten bildet das Dekor ihres Balletts. Im Halbdunkel kann ich ihre Gesichter nicht sehen, und sie sehen nur die Tänzer. Die anderen, das große Tier der Masse, die immer größer wird, können sie nur hören. Dies ist der Abriß ihrer Welt, die einzige Welt, die sie gekannt haben. Auch auf dem Rückweg will das Mädchen den Zähler nicht anstellen. Sie sagt, daß sie glücklich ist, daß sie diesen Augenblick nie mehr vergessen wird. Ihre Augen glänzen. Ihr Freund ist nun irgendwo an der Mauer, gern würde sie diesen Moment mit ihm teilen, aber sie weiß nicht, wo er ist, und außerdem hat sie bis sechs Uhr morgens Dienst.

Der nächste Morgen. Freitag. Ich stehe hinter dem Fenster im Cafe Adler, dem letzten Cafe auf der Westseite, beim Checkpoint Charlie. You are now leaving the American Sector, und auch das bedeutet nichts mehr, als sei auch diese Sicherheit rasend schnell abgeblättert. Im langsamen Strom kommen die Trabis über die Grenze. Jemand teilt Geld aus an die Leute in den Autos, ein anderer Blumen. Die Leute in den Autos heulen oder gucken erstaunt, als ob es nicht wahr sein kann, daß sie hier fahren, daß die anderen ihnen zuwinken und zurufen. Die DDR-Grenzer stehen auf der anderen Straßenseite, ein paar Meter von ihren westlichen Kollegen entfernt. Sie sprechen nicht miteinander, halten sich tapfer in der quirlenden Menge. Ich sehe mir die Gesichter an, und genausowenig wie gestern in der Dunkelheit kann ich auf ihnen etwas lesen. Dann gehe ich selbst hinüber, stelle mich in die Reihe, business as usual, Visum, fünf Mark, Geld wechseln gegen den Wahnsinnskurs von 1:1, während der wirkliche Kurs 1:10 ist. Es geht schnell, innerhalb einer Viertelstunde bin ich drüben, aber die Schlange auf der anderen Seite ist unendlich lang und reicht bis weit in die Friedrichstraße hinein. Ich gehe zu der Straße, in der sich mein Verlag befindet. Dort ist es ruhig, aber die Tür ist offen. Ich treffe einen der Lektoren und werde mit Berliner Humor überrascht: „Wie nett, daß Sie kommen, wo nun doch jeder in die umgekehrte Richtung geht!“, aber es ist offensichtlich, daß sie von den Ereignissen überströmt werden. Niemand hat eine Idee, wie sich das weiterentwickeln wird. Ich sage, daß ich von einem ungarischen Freund gehört habe, daß dort nach der Veränderung, ein besseres Wort fällt mir nicht ein, über zweihundert neue Verlage gegründet wurden, und das weiß man natürlich schon, was sie aber in so einem Fall am meisten beschäftigt, ist die Frage, wie man an Papier kommen soll. Über Wiedervereinigung kann niemand ein vernünftiges Wort sagen. „Wie würde das wirtschaftlich aussehen? Kein Mensch hier kann ein Buch aus dem Westen bezahlen. Unsere Bücher kosten nur ein paar Mark.“ Der Verlag gibt heute eine wunderbare Reihe mit ausländischen Autoren heraus, von Duras bis Frisch, Queneau, Kawabata, Canetti, Cheever, Calvino, Bernlef, Sarraute, was aber wird aus ihren Lizenzausgaben werden, wenn die westdeutschen Verlage auch im Osten frei operieren können? Bekommen sie dann noch die Rechte? Von dieser Art Fragen sind Hunderte im Umlauf, das ganze Land ist eine große Frage ohne Antwort, und jede mögliche, jetzt noch undenkbare Antwort, wirtschaftlich oder politisch, berührt das persönliche Leben von Millionen von Menschen. „Die Welt ist zu Glas geworden“, sagt der Lektor, und dieses Gefühl behalte ich, als ich wieder draußen umhergehe. Es ist kalt, aber die Sonne bescheint den Triumphwagen auf dem Brandenburger Tor. Jetzt sehe ich die Stadt, in der ich wohne, von der anderen Seite, das ist immer noch möglich. Auf der westlichen Seite steht eine Menschenmenge auf der Mauer, die Kameras von CBS und BBC filmen das geräuschlose Winken und Jubeln, die entfernte Ekstase. Im klassischen Niemandsland zwischen hüben und drüben gehen die Offiziere im Dekor der Säulen auf und ab, wie sonst auch, Sonnenlicht auf den Epauletten.

Glas, das Wort läßt mich nicht mehr los. Die Welt ist hier nicht mehr wirklich. Ich gehe über den Boulevard Unter den Linden, im Schaufenster einer großen Buchhandlung liegt die Luxusausgabe der Gesammelten Werke Erich Honeckers. Die Bücher sind Miniaturen, daumengroß, in Leder gebunden. Alles für das Wohl des Volkes. Es ist, als stellten sie durch ihr winziges Format das Schicksal des abgesetzten Staatsführers dar. Die Ausgabe kostet 420 Mark.

Wie lange ist er her, dieser Kuß von Gorbatschow? Links und rechts sind die Gebäude hoch, alt, riesig. Einst war dies das wirkliche Zentrum einer Weltstadt, und erst jetzt spüre ich, wie groß sie war, wie groß sie sein wird, wenn sie wieder eine Stadt wird. Die Hauptstadt eines Reiches? Friedrich der Große, nie weggewesen, reitet in heroischem Stillstand auf seinem Pferd, die winkenden Gestalten auf den neoklassizistischen Gebäuden tanzen versteinert im letzten Sonnenlicht, vor Schinkels Neuer Wache stehen zwei völlig reglose Soldaten, auf der gegenüberliegenden Seite, am Bebelplatz, erinnert ein Gedenkstein an die Bücherverbrennung: Auf diesem Platz vernichtete nazistischer Ungeist die besten Werke der deutschen und der Weltliteratur. Und ein paar Meter weiter: Lenin arbeitete im Jahre 1898 in diesem Gebäude. Kann ich etwas sehen an den Menschen? Nein, ich kann an den Menschen nichts sehen. Sie gehen umher und kaufen ein, als strömte die eine Hälfte ihrer Stadt in diesem Augenblick nicht in den Westteil.

Ich überquere das dunkle Wasser der Spree und komme zum Roten Rathaus, wo jeden Montagabend die Demonstrationen abgehalten wurden, die diese Welt ins Schwanken brachten. Über den davorliegenden Rasen gehe ich auf die Rücken von Engels und Marx zu. Der eine steht, der andere sitzt, ich erkenne sie von hinten am welligen Haar, am hervorstechenden Bart des Sitzenden, aber auch ihre Welt scheint nun zu Glas geworden zu sein, zerbrechlich, durchsichtig, sie sind zwar noch da, aber auch schon ein bißchen weg, enttäuschte Erblasser mit den Rücken zum gläsernen, erleuchteten Palast ihrer Nachkommen, dem Palast der Republik. Ein paar Stunden später kommen die letzten Erben zu einer Gegendemonstration zusammen. Inzwischen ist es dunkel, riesige Halogenlampen strahlen die Versöhnungstür des Berliner Doms an. Schon wieder eine Menge, diese aber fordert nicht, sie verteidigt, spricht sich selbst mit Losungen, Transparenten und mechanischen Kampfliedern aus den großen Lautsprechern Mut zu. Ich gehe mit den anderen über den Kies zwischen den Denkmälern bis ans Alte Museum mit seinen Säulen und den wachsamen Adlern. Die Presse klettert auf das gigantische Podest, das vor dem Gebäude steht. Von den Stufe kann ich die Transparente gut lesen. Weiter so, Egon. Sozialismus mit Zukunft: SED, aber auch Für die Unumkehrbarkeit der Wende und Kommt raus aus Wandlitz, seht uns ins Antlitz, und das tue ich, ich sehe mir die Gesichter der Parteileute an. Sie sind es, die bei Veränderungen am meisten zu verlieren haben. Bei freien Wahlen würde die SED nur noch zwölf Prozent der Stimmen bekommen, die meisten hier würden im Nichts verschwinden, wo sich einige ihrer Führer bereits aufhalten, abgeschafft. Manche singen zögernd die verstärkten Lieder von den blutroten Fahnen und Kampf mit, doch die Stimmung ist unsicher, die Welt um sie herum hat sich gewandelt, sie wissen, was in Polen und Ungarn geschehen ist, sie kommen, um sich sicher zu fühlen bei den lauten Stimmen, aber auch diese Stimmen sagen Dinge, die sie früher nie gesagt haben. Die Parteimitglieder, die sprechen, verübeln ihrer Führung, daß sie zu spät war, zu spät und zu träge, sie werden von den Ereignissen ständig eingeholt. Am Mittwoch ins Politbüro gewählte Mitglieder wurden heute wieder abgesetzt, niemand weiß, woran er ist, das „Monopol auf die Wahrheit“ wurde aufgegeben, alles klingt wie Ketzerei. Ein paar Redner sagen, sie seien froh, daß sie ihren Beitrag nicht wie früher erst der Partei zur Genehmigung vorlegen müssen. Die meisten ernten mehr Beifall als Krenz. Er spricht von einer Revolution auf deutschem Boden, aber die Leute, die dort stehen, wissen, daß es nicht ihre Revolution ist. Er spricht auch über freie Wahlen, sagt aber gleichzeitig, daß sich die Partei die Macht nicht aus der Hand nehmen lasse: Wir sind bereit uns zu ändern, aber wir werden uns niemals aus der Verantwortung stehlen. Niemals, welche Gültigkeit haben solche Worte? Wie eine belagerte Gruppe steht die Führung tags darauf in der 'Welt am Sonntag‘, Regenmäntel, erhobene Fäuste, die Münder zur Anstimmung des Kampfliedes geöffnet. Inzwischen schlagen überall in der Stadt die pneumatischen Hämmer die ersten Löcher in die Mauer. Ich gehe weg, bevor die Menge aufbricht. Hinter den Fenstern des Palast Hotels spielt ein kleines Streichorchester im Smoking für Bulgaren und Koreaner.

Noch immer steht eine Schlange am Checkpoint Charlie. Ausländer dürfen durch einen gesonderten Ausgang hinaus, sie brauchen nicht zu warten. Dieselben Grenzer wie am Morgen, die Gesichter erschöpft, bleich, angespannt. Ich komme heraus wie ein Ostberliner, denn eine junge Frau bietet mir Kaugummi an, ein Junge drückt mir ein Pamphlet in die Hand über Einigkeit und Recht und Freiheit und daß die Mauer weg muß und daß die Wiedervereinigung kommen muß und daß mir McDonald's ein kleines Getränk anbietet, Gutschein gültig bis 12.11.89. Jetzt wird mir auch zugejubelt, dem Heimkehrer, der ich bin. In der U-Bahnstation Kochstraße warten Tausende auf einen Zug, lassen sich willenlos hineindrücken, in den Westen. Als ich endlich auf dem Ku'damm angekommen bin, ist dort Jahrmarktstimmung. Autos können nicht mehr fahren, die Stadt ist dem Wahnsinn verfallen, das Volk ist ein einziger taumelnder Körper geworden, ein Tier mit Tausenden von Köpfen, es wogt, rinnt, strömt durch die Stadt, weiß nicht mehr, ob es sich selbst bewegt oder bewegt wird, und ich ströme, bin nun selbst Menge geworden, Bild aus einen Journal. Auf der Wand an der Joachimsthaler Straße erscheinen die elektronischen Nachrichtenbulletins in schnell verlöschenden Zeilen, als ob die Nachrichten sie noch einholen könnten, aber nichts kann diese Menge einholen, denn sie ist es selbst, die diese Nachrichten macht, und sie weiß es, und es wird wie ein Schauder empfunden: Was sie hier lesen, haben sie selbst verursacht, sie sind das Volk, die Politiker laufen ihnen mit ihren Wörtern hinterher, vorläufig aber ähneln die Wörter mehr der Beruhigung als etwas anderem. Keiner wird jemals wirklich wissen, was die Geschichte ist, in den letzten Wochen jedoch haben die Menschen, die jetzt hier umhergehen, ein Blatt für sie umgeschlagen, und nicht nur die Krenzer, sondern auch die Kohls und Gorbatschows, die Mitterrands und Thatchers müssen sehen, wie die kommenden Seiten geschrieben werden und wer in ihnen vorkommt. Millionen Europäer aus dem Osten haben die Unterschriften von Jalta eingeholt, und wir haben ihnen dabei nicht geholfen. Vor dreiunddreißig Jahren stand ich in Budapest in einer anderen Menschenmenge, die sich von uns verraten und verlassen fühlte. Auch das war Geschichte, das schwarze Siegelbild des Tages, den ich jetzt miterlebe. Ich sah, wie die russische Armee die Stadt umzingelte und schrieb meinen ersten Zeitungsbericht, der mit den Worten endete: „Russen, geht nach Hause.“ Jetzt kann ich über meine Einfalt lachen, aber wie laut muß ich lachen? Sieben Jahre später war ich wieder im Osten, an demselben Ort wie heute. Es war am 15. Januar 1963, und ich schrieb: „Man kann sich die Situation in der griechischen Antike oder in welcher Antike auch immer vorstellen: eine Stadt, die zweigeteilt war durch eine Mauer. Legenden und Geschichten darumherum, ein fast vergessenes Sprichwort, ein Lustspiel von Tirso de Molina, wiederentdeckt in einer Ecke der Bibliothek von Salamanca, eine Bearbeitung von Moliere, und später natürlich ein etwa einstündiges Cinerama, eine Anekdote, auf der die Symbole wie Unkraut wachsen, Kulturbesitz. Aber die Antiken, mit denen wir es zu tun haben, sind meistens nur ein paar Jahrtausende alt, vielleicht klebt deshalb an unserem Tun und Lassen etwas unheilbar Antiquiertes. Steh mal an der Mauer, kneife die Augen halb zu, eine Stümperei mittelalterlicher Landsknechte, die Halt! rufen und dich zurückhalten, eine Brücke oder Schranke aufmachen, und du bist im Land der Anderen. Er, der Millionen Kilometer in ein paar Tagen zurücklegen kann, Planeten zu Hause besucht und Atome spaltet, kann jetzt auch schon eine zwei, drei Meter hohe Mauer bauen und nicht mehr drübersteigen, so wie ein Ägypter oder Babylonier nicht hätte drübersteigen können, so wie man im Mittelalter seine Waffen am Tor abzugeben hatte, so wie ein Athener in der Spree ertrinkt, so wie ein Europäer von West- nach Ost-Berlin zieht.“

Noch immer sind Russen in der DDR, sind Amerikaner in der Bundesrepublik. Es sind immer noch zwei Staaten, und die Mauer steht noch, obwohl sie Löcher hat. Aber die Menschen aus dem Anderen Land sind auf unseren Straßen, zum erstenmal seit fast dreißig Jahren, und wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich sie sehen. 12. November 198

Aus dem Niederländischen von

Rosemarie Stil