DDR-Bürger wollen mehr

■ Auch nach der Regierungsbildung sind wieder Hunderttausende auf Montagsdemonstrationen / Seiters bei Krenz: 1990 kein Begrüßungsgeld mehr

Berlin-Ost (ap/dpa/taz) - Modrows Regierungsprogramm reicht nicht: Hunderttausende von DDR-BürgerInnen gingen gestern wieder auf Straßen und Plätze vieler Städte, um ihre weitergehenden Forderungen zu unterstreichen. 250.000 waren es allein in Leipzig, die insbesondere gegen den Führungsanspruch der SED demonstrierten und freie Wahlen forderten. „Die Macht geht vom Volke aus, nicht von der SED“, hieß es wieder. Und, unter Bezug auf Wendehälse und SED-Reformer: „Die Schlange kann sich häuten, aber sie bleibt eine Schlange.“ Demonstranten forderten auch „faire Gerichtsprozesse gegen unfaire SED-Funktionäre“ und eine offenere Besuchsregelung: „Visafrei und ohne Zwangsaustausch - auch für unsere Mitbürger in der BRD“.

40.000 demonstrierten in Karl-Marx-Stadt, 50.000 in Halle, 10.000 in Schwerin, mehrere zehntausend in Dresden, mehrere tausend in Cottbus, Ost-Berlin und anderen Städten. Überall standen Forderungen nach freien Wahlen, mehr Rechtssicherheit und Aufforderungen an die BürgerInnen, im Lande zu bleiben, im Mittelpunkt.

Daß die SED ihren Führungsanspruch durch Streichung des Artikels I in der DDR-Verfassung aufgeben will, hat gestern abend nach seinen Gesprächen mit SED-Generalsekretär Krenz und Regierungschef Modrow der bundesdeutsche Kanzleramtsminister Seiters angedeutet. „Ich habe diesen Eindruck gewonnen“, sagte er auf einer Pressekonferenz. Seiters war zu Sondierungsgesprächen nach Ost-Berlin gekommen, „solide Gespräche“, wie Krenz das Treffen wertete, dem weitere vor dem geplanten Besuch Kohls folgen müßten. Seiters verhandelte auch über die Einrichtung eines gemeinsamen Devisenfonds, aus dem zukünftig DDR-Besuchern in der BRD ein akzeptabler Wechselkurs von Ost- ind Westmark angeboten werden könne. Diese Regelung soll wahrscheinlich ab Jahresbeginn 1990 das Begrüßungsgeld von 100 DM pro Jahr ablösen.

Die neue DDR-Regierung strebt offensichtlich eine enge Kooperation mit der Europäischen Gemeinschaft an. Das geht aus einem Memorandum des DDR-Regierungschefs Hans Modrow hervor, das dieser am Wochenende der EG übermittelt hat. Große Bedeutung wird in Brüssel der Tatsache beigemessen, daß die DDR auch eine politische Kooperation mit der EG anstrebt. In dem Memorandum heißt es, die DDR sei im Kontext eigener Interessen und zur Förderung gesamteuropäischer Prozesse zur Zusammenarbeit mit der EG bereit. Sie wolle ihre Beziehungen zur EG zügig, kooperativ und konstruktiv entwickeln. Als eine der wichtigsten Äußerungen wird von EG -Experten folgender Satz gewertet: „Konsultationen mit der 'Europäischen Politischen Zusammenarbeit‘ könnten zur politischen Normalität werden.“ In der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die als Vorstufe für einen europäischen Fortsetzung Seite 2

Bundesstaat gilt, stimmen die Außenminister der Gemeinschaft ihre außenpolitische Haltung ab.

Für Aufsehen sorgte gestern in Ost-Berlin ein Fernsehinterview mit Staats- und Parteichef Egon Krenz.

Auf die Frage, ob er auch nach dem Sonderparteitag der SED im Dezember noch Parteichef sein werde, hatte Krenz die Möglichkeit eines Scheiterns eingeräumt: „Das ist eine Entscheidung meiner Partei. Ich habe immer die Entscheidungen meiner Partei getragen.“

Erstmals hat ein SED-Spitzenfunktionär die Existenz der Partei in Frage gestellt. Der Leipziger Parteibezirkschef Roland Wötzel sagte in einer Talkshow des WDR, es könne sich die Frage einer Neugründung stellen. Wötzel unterstrich zudem die Auffassung von Beobachtern, nach denen die DDR unmittelbar nach den Feiern zum 40. Republikgeburtstag vor bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen stand. Honecker habe einen schriftlichen Befehl an Einheiten der Volksarmee unterzeichnet, den Protest niederzuschlagen.

Scharfe Munition sei ausgegeben worden. Der Superintendent von Leipzig-Ost berichtete, in den Krankenhäusern seien Betten und Blutkonserven bereit gestellt worden.