Mordfall Schmücker - VS vertuscht Skandal

V-Mann-Führer Grünhagen übernimmt in Berlin stillschweigend die Tatwaffe / Eine erfolgreiche Fahndung mit Festnahmen soll den Skandal vertuschen, den Mord an Schmücker nicht verhindert zu haben / Heftige Kritik in der bundesdeutschen Linken / Ilse B. wird widerstandslos festgenommen  ■  Von Jerry Cotton

Nach eigenen Angaben ist Jürgen Bodeux ein wesentlicher Initiator des Mordkomplotts gegen Schmücker gewesen. Als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft hat er dennoch nicht viel zu befürchten. Aus diesem und aus einem weiteren Grund, über den noch zu reden sein wird, muß seinen Aussagen äußerste Vorsicht entgegengebracht werden.

Doch auch ohne Bodeux ist zumindest das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz über seinen V-Mann „Wien“ bestens darüber im Bilde, was sich in dieser Nacht vom 4.auf den 5.Juni an der Krumme Lanke zugetragen hat und wer die Mitwirkenden gewesen sind. Am Morgen des Tattages hat nämlich Weingraber folgendes berichtet: Ilse wolle sich im Laufe des Vormittages sein Auto leihen. Abends brauche W. den Wagen noch einmal, wolle ihn aber nach 23 Uhr zurückbringen. Dabei solle er auch ein „Paket“ übernehmen.

In der Nacht vom 4.auf den 5.Juni, kurz nach Mitternacht, erhält der V-Mann-Führer Grünhagen in seiner Wohnung einen Anruf. An der Strippe wieder der V-Mann „Wien“: „Wir müssen uns sofort treffen, ich habe da was für dich.“ Bei dem anschließenden Treffen übergibt „Wien“ Grünhagen das angekündigte „Paket“: eine Plastiktüte mit der Aufschrift „Bata“. Darin eine etwas angerostete Pistole der Marke P 08 Kaliber 9 Millimeter und zwei passende Magazine. Hastig berichtet der V-Mann „Wien“, was ihm der Waffenüberbringer weniger als eine Stunde zuvor erzählt hat: Der Verräter Schmücker sei erschossen worden. Schweigend nimmt Grünhagen die Waffe entgegen und instruiert seinen V-Mann, bis zum nächsten Dienstgespräch die Füße still zu halten.

Auf der ganzen Linie versagt

In dieser Nacht wird dem V-Mann-Führer und Terroristenjäger Grünhagen klar, daß seine Manöver auf der ganzen Linie danebengegangen sind. „Genosse“ Weingraber ergänzt an diesem Abend gegenüber Grünhagen seine Schilderungen des vorangegangenen Tages. Ilse B. und Jürgen Bodeux hätten sich am 3.und am 4.Juni wie berichtet kurzfristig sein Auto geliehen, und am 4.Juni mittags habe er die beiden zum Bahnhof Zoo gefahren und nach Wolfsburg verabschiedet. Am Abend dann habe sich W. den Bus nochmals ausgeliehen und ihn nun zurückgegeben. Dabei habe er ihm dann die Plastiktüte übergeben und ihn gebeten, diese „gut (zu) verstecken“, bis sie jemand bei ihm abholen komme.

Tatsächlich ist davon auszugehen, daß Grünhagen bereits im wesentlichen Bescheid weiß. Seit Wochen observiert der Berliner Verfassungsschutz schon die Bewegungen von Ilse B. und ihrer Truppe. Manchmal sind auch Kollegen des Kölner Bundesamtes bei der Observation eingesetzt. Nach Aussagen des Berliner VS-Chefs Franz Natusch sind seine Leute auch am Vortag des Mordes noch am Ball gewesen. Dann allerdings wollen sie trotz der Hinweise Weingrabers vom Vormittag des 4.Juni die Beobachtung abgebrochen haben. Abends, so der damalige VS-Chef, „waren wir nicht an der Krumme Lanke“.

Ein Skandal muß vertuscht werden

Trotz des tödlichen Desasters an der Krummen Lanke aber gibt der Verfassungsschutz sein Konzept nicht auf, die Gruppe um Ilse B. als Einfallstor zu benutzen, um möglicherweise doch noch tiefer in die bewaffneten Gruppen eindringen zu können. Eine erfolgreiche Fahndung mit Festnahmen, so das Kalkül des Verfassungsschutzes, könnte als einziges noch helfen, den Skandal eines quasi von Amts wegen Ermordeten zu vertuschen. Noch hat man die V-Leute gut getarnt dicht am „heißen Brei“, und zudem spekuliert man im Amt, daß sich nach der Aktion an der Krummen Lanke die Chance eines Kontakts der Wolfsburger mit anderen Teilen bewaffneter Untergrundgruppen erst recht ergeben würde. Fortan setzt der Verfassungsschutz auf Desinformation, die bis zum heutigen Tag anhält.

Und das auf verschiedenen Ebenen. Die Wahrheitsfindung wird aus Gründen der Staatsraison nach Kräften hintertrieben. Dazu hat der VS allen Grund: Es geht um nicht weniger als darum, die Mitverantwortung der Verfassungsschützer am Tode ihres Informanten Ulrich Schmücker zu verschleiern. Bestens informiert ist man im Amt - nicht zuletzt durch Schmücker selbst - darüber gewesen, daß dessen Leben aufs höchste gefährdet sei. Allein aus fahndungstaktischem Kalkül sieht das Amt zu, wie eine mit einer Waffe ausgestattete Gruppe sich darauf vorbereitet, „den Verräter Schmücker hinzurichten“. Und als das dann tatsächlich passiert, geht es nicht zuletzt auch noch darum, die Legende der eigenen V -Männer auch weiterhin abzusichern. All das nach der Devise: Desinformation.

Scheinbares Desinteresse an den Wolfsburgern

Damit geht es gleich los. Um die V-Leute weiter unerkannt zu lassen, gibt es zunächst keinerlei Festnahmen. Statt dessen schreibt die Staatsanwaltschaft zwei Angehörige des Berliner Kerns der „Bewegung 2.Juni“ wegen des Mordes an Schmücker zur Fahndung aus, obwohl den Ermittlungsbehörden bereits klar ist, daß diese beiden mit der Sache nichts zu tun haben. Zwar taucht zwei Tage nach Schmückers Tod die Kripo in der Wolfsbuger Kommune auf, die aber nur wissen will, wie die Adresse von Ilse B. in die Hosentasche des ermordeten Schmücker gekommen sein könnte. Die Beamten ziehen wieder ab, als Ilse die Frage mit Achselzucken beantwortet. Aber ansonsten kümmerte man sich scheinbar nicht um die Wolfsburger, die sich auch prompt in absoluter Sicherheit wähnen. Bei ihrem „Indianerspiel“ ist den Wolfsburgern nie aufgefallen, daß sie rundum observiert und unterwandert worden sind.

Im Gegenteil: V-Mann „Wien“ berichtet dem Berliner Amt, jetzt wolle man in der Wolfsburger Bäckergasse erst recht zum Aufbau einer Stadtguerilla-Gruppe schreiten. Weingraber hat als V-Mann dazu immerhin ein Kleinkaliber-Gewehr der Marke „Landmann Pretz“ beizusteuern. Auch Ilses Kontakte zu dem alten Freund Christian Hain versprechen für den Aufbau der Gruppe ganz ergiebig zu sein: Der Genosse Hain kennt „unheimlich viele Genossen“ und kann „gute Kontakte machen“.

Schon bald, so ist vorgesehen, soll der Genosse Hain im Auftrag der Wolfsburger den „Genossen Weingraber“ treffen, um von diesem die im VW-Bus vorgefundene Plastiktüte samt Inhalt entgegenzunehmen und nach Wolfsburg zu bringen. Das klappt aber nicht, der „Genosse Weingraber“ läßt den Genossen Hain wissen, er könne derzeit nicht an die absolut sicher abgebunkerte Waffe herankommen. So vermeldet es Hain in Wolfsburg. Was man dort nicht ahnt: Unter dem Vermerk „Geheim, diese Mappe darf nur von IV ( also vom VS-Chef) persönlich geöffnet werden“ liegt die Waffe eingewickelt in eine Plastiktüte, Aufschrift „Bata“, im Panzerschrank des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz. Vermerk: „Von VM Wien erhalten“. Das Datum fehlt. Aus diesem „absolut sicheren“ Panzerschrank wird sie erst fünfzehn Jahre später, im Mai 1989, ebenso angerostet, aber auch ebenso intakt wie noch fünfzehn Jahre zuvor, wieder auftauchen.

Während man sich in Wolfsburg in Sicherheit wiegt, entbrennt in der bundesdeutschen Linken ein heftiger Streit. Denjenigen, die die „Aktion Schmücker“ umstandslos als völlig daneben und kontraproduktiv verurteilen, stehen die gegenüber, die trotz teils zugegebener Bauchschmerzen die Solidarität mit dem Untergrund hochhalten.

„Was ist das für eine Linke?“

Im Ergebnis aber kritisieren nahezu alle relevanten Strömungen der außerparlamentarischen Linken der BRD die Erschießung Schmückers auf das heftigste. „Zum ersten Mal seit Beginn der 'neuen Linken'“, so damals Professor Peter Brückner, „ist ein Mitglied einer linken Gruppe von seinen eigenen Genossen in Selbstjustiz getötet worden.“

„Was ist das für eine Linke?“, fragen Barbara Sichtermann und Peter Brückner in ihrem Schmücker-Buch Gewalt und Solidarität, „in der ein Mord geschieht, in der dieser Mord auf eine bestimmte Weise begründet wird, und in der auf bestimmte Weise auf den Mord und auf die Begründung reagiert wird. Woher kommt diese Linke, welche Zielvorstellungen sind in ihr lebendig, welche Tradidition wirksam, welche Einflüsse prägend?“ Nur allzu berechtigte Fragen allerdings hat damals niemand auch nur eine Ahnung, „welche Einflüsse“ beim Schwarzen Juni wirklich prägend gewesen sind und welche Kräfte im Anarcho-Chaos mitmischen. Die Kritik an der „Hinrichtung“ und an dem großkotzigen Kommunique ist allenthalben verheerend.

Auch im Untergrund ist man heftig zerstritten über den Mord an dem „Würstchen Schmücker“. Während ein Teil der Stadtguerilleros sich von dieser Aktion des Schwarzen Juni öffentlich distanzieren will - zumal ein „Tribunal der Bewegung 2.Juni gegen Schmücker“ nie stattgefunden hat, sondern lediglich eine „Befragung Schmückers durch den Schwarzen Juni“ in Eigenregie -, setzt sich dennoch jener Teil durch, der die Haltung vertritt: „Jetzt ist es nun mal passiert, und schließlich war Schmücker ein Verräter.“ Daß die „Bewegung 2. Juni“ Gefahr läuft, durch diese Aktion auf das nachhaltigste diskreditiert zu werden, meint man verkraften zu können.

Unterdessen gibt es auch in Wolfsburg Ärger. Ilse B. wird zum zweiten Mal wegen ihrer Adresse, die man bei Schmücker gefunden hat, zur Vernehmung geladen. Hier noch als „Zeugin“ befragt, wird sie wegen Aussageverweigerung am 14.Juli in Beugehaft genommen. Einen Monat später wird sie allerdings wieder aus der Beugehaft entlassen. Bodeux holt sie am Knast Hildesheim ab. Nach einem kurzen Besuch in Berlin machen sich Ilse und Bodeux am 15.August auf den Weg ins Rhein-Main -Gebiet. In Frankfurt, so Bodeux später vor Gericht, will man Genossen besuchen und in Darmstadt villeicht eine „Geldkiste“ drehen.

Das geht der observierenden Staatsgewalt jetzt doch zu weit. Innerhalb weniger Tage werden vier Mitglieder der Wolfsburger Gruppe verhaftet. Bereits im Juli hat sich der Staatsanwalt Götz Tilgner geholt. Am 26.August 1974 schließlich werden Ilse B. und Bodeux in der Nähe von Darmstadt von einer MEK-Einheit ohne Widerstand festgenommen. Widerstand wäre auch, zumindest mit Schußwaffen, nicht möglich gewesen. Auf die haben Ilse und Bodeux bereits seit drei Tagen vergeblich gewartet. Der „Genosse“ Weingraber, der zugesagt hat, zwei Waffen mitzubringen, ist nämlich nicht erschienen.

Drei Tage zuvor hat Weingraber unter Vorlage eines von Bodeux in Hamburg geklauten Personalausweises bei der Firma „Inter-Rent“ in Helmstedt einen VW-Käfer angemietet. Mit diesem Auto, so Weingrabers Information ans Berliner Amt, soll er sich auf den Weg zu Ilse machen, die in Darmstadt wartet. Weil man beim VS jetzt aber entschlossen ist, Ilse und Bodeux doch aus dem Verkehr zu ziehen, läßt man den VM „Wien“ noch einmal auf den Busch klopfen. Gegenüber Ilse soll er ankündigen, daß er das Kleinkalibergewehr „Landmann Pretz“ und eine Neun-Millimeter-Mauser im Gepäck habe.

Auf dem Weg nach Darmstadt, kurz hinter Helmstedt, steuert Weingraber allerdings auftragsgemäß in den Chaussee-Graben. Unter Zurücklassung des Gewehres und der Mauser-Pistole, die der VS noch schnell beigesteuert hat, verläßt Weingraber eilig den Unfallort. Und die Presse liefert dem VS auch prompt die gewünschten Schlagzeilen: „Auto von Terroristen mit Waffen verlassen aufgefunden - Insassen flüchtig.“ Ilse empfängt statt Waffen einen Haftbefehl. Weingrabers Legende aber ist durch die vermeintliche „Waffenbeschaffung“ nicht nur gerettet, sondern steht jetzt auf noch stabileren Beinen.

In Berlin plaudert derweilen Götz Tilgner vor Staatsanwalt und VS alles aus, was er über die Zusammenarbeit mit den Wolfsburgern weiß und wie die Vorbereitungen zum Schmücker -Mord abliefen, solange er noch in der Gruppe war. Auch Bodeux hält nach nur sechs Wochen Haft nichts mehr von „Revolution“ und bittet den Staatsanwalt zum Gespräch. Der Staatsanwalt der politischen Abteilung (P II) am Berliner Landgericht, Jürgen Przsytarski, nimmt den geständnisfreudigen Bodeux fortan unter seine Fittiche. Bevor aber Bodeux selbst richtig zum Zuge kommt, erzählt ihm erst einmal der Staatsanwalt etwas.

Der nämlich, der gegen die sechs inzwischen alle in Berlin inhaftierten Wolfsburger ermittelt hat, ist sich von Anfang an seiner Anklage sicher. Ilse Jandt, geschiedene Bongartz, Jürgen Bodeux und vier weitere Mitbewohner der Wolfsburger Bäckergasse stehen unter dem dringenden Tatverdacht, am 4.Juni 1974 den Studenten Ulrich Schmücker, 22, gemeinschaftlich an der Krummen Lanke ermordet zu haben. Der Student, so die Anklage, sei aus „niedrigen Beweggründen, und dazu heimtückisch“ von der Gruppe als „Verräter“ erschossen worden. Der Schütze sei W. gewesen, alle anderen der Beihilfe zum Mord verdächtig. Zur Untermauerung hat Staatsanwalt Przsytarski bereits die Aussagen von Götz Tilgner vorliegen.

(Fortsetzung folgt)