DDR: Keine Krise, aber „Schlamassel“

■ Elmar Altvater, Politologie-Professor an der FU Berlin, hatte einen Traum: Er mußte als Vordenker der DDR in Sachen Wirtschaftsreform eine Rede halten / Reine Marktwirtschaft wäre Trauma für marode Ökonomie / Motivation nur durch Glasnost / Vorsichtige Marktelemente und Währungskonvertibilität / Zur Not: IWF-Beitritt

In einer besonders schwierigen, aber auch herausfordernden Zeit der Wende hat man mich mit der Aufgabe betraut, über den Kurs der Wirtschaft unserer DDR zu sprechen. Das ist nicht leicht, wie auch sympatischere Vögel als die Wendehälse von den Dächern singen. Nicht daß wir uns in einer konjunkturellen und strukturellen Krise befänden mit Massenarbeitslosigkeit, brachliegenden Kapazitäten unter der Drohung des finanziellen Krachs wie periodisch in der kapitalistischen Welt. Wir sind auch nicht in der ausweglosen Situation verschuldeter Länder in Lateinamerika oder Afrika, denen innerhalb der kapitalistischen Welt Entwicklungschancen weitgehend verbaut worden sind; für uns sind die 80er Jahre kein verlorenes Jahrzehnt und das wird auch in den neunziger Jahren nicht anders sein, obwohl die 20 Milliarden Dollar Außenschulden durchaus nicht auf die leichte Schulter genommen werden können. Unsere Bürger sind hochqualifiziert und wir verfügen in der DDR über einen modernen Produktionsapparat - und ein gehöriges Devisenpolster (die Kehrseite der Verschuldung), mit dem die Westreisen unserer Bürger eine geraume Zeit finanziert werden können und das es uns noch gestattet, zu guten Konditionen Kredite auf den Euromärkten aufzunehmen solange unsere Kreditwürdigkeit nicht durch Bonner Kanzlerworte kaputtgeredet wird.

Alternativen fertig gemacht

„Krise“ wäre also kein passendes Wort, um den Zustand unserer Ökonomie zu bezeichnen. Das darf uns freilich nicht beruhigen. Die Krise ist eine Phase sozialer und politischer Konflikte zwischen Klassen, bei denen es um die Realisierung von gesellschaftlichen Alternativen geht. Eine Klasse gewinnt dabei, und wenn sie es richtig anstellt, werden die Verlierer subaltern in ein neues modernisiertes Projekt integriert. Aber bei uns ist das anders. Es fehlen zum einen die organisierten Subjekte, die den Klassenkampf führen, und es sind auch keine eindeutigen, objektiven Tendenzen der Reorganisation der Ökonomie auf alter Grundlage auszumachen. Das Durcheinander der Ökonomie ist viel größer als in einer normalen Krisensituation. Daher kommt das Adjektiv „marode“ der Realität unserer Wirtschaft schon näher. Wir befinden uns in einem riesigen Schlamassel, aus dem Auswege nur möglich sind, wenn radikale Wendemanöver durchgeführt werden.

Darauf sind wir nicht besonders gut vorbereitet. Wir haben in unserer 40jährigen Geschichte alles getan, um Leute mit alternativen Projekten unwirksam und fertig zu machen. Wir haben den Fehler gemacht, unseren Alternativökonomen und sonstigen Querdenkern das Wort zu verbieten und ihnen die Langeweile des Nachbetens von abgegriffenen Formeln zu verordnen, die sowieso keiner ernstnahm, bis sie still wurden wie Arne Benary und Fritz Behrens in den 50er Jahren oder unsere Republik verlassen haben. Oder wir haben sie schlicht eingeknastet und später in den Westen expediert wie Rudolf Bahro.

Ja, Bahro hatte mit seiner schonungslosen Analyse der Verhältnisse in seiner „Alternative“ Mitte der siebziger Jahre so unrecht nicht. Ich war immer dieser Auffassung, habe aber nichts gesagt. Oder sind nicht Sätze wie die folgenden aus heutiger Sicht außerordentlich klarsichtig? „Wie in der Armee die Meuterei, so ist in unserer vorgeblich sozialistischen Gesellschaft die massenhafte Rebellion der einzige Weg für die unmittelbaren Produzenten, nachdrücklich auf die allgemeine Marschrichtung Einfluß zu nehmen. Andernfalls bleibt ihre Initiative auf die Durchführung von Befehlen... beschränkt. Es ist Schuld der Verhältnisse, wenn sie auf unproduktive und regressive Formen des Protestes verwiesen sind“ (Bahro, 199f). Wir haben die Lehre nicht beherzigt, daß Widerspruch in einer Gesellschaft eine unverzichtbare Produktivkraft ist.

Was ist nun geschehen, daß nach 40 Jahren sozialistischer Republik darüber geredet wird, den Markt und mit ihm evtl. auch kapitalistische Verhältnisse in der DDR einzuführen? War die Planung so schlecht, war die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein Fehler? Wir wußten ja nach dem Krieg, warum wir den Ware-Geld-Beziehungen, d.h. dem Wirken des Marktmechanismus enge Fesseln anlegten.

Der Markt erzwingt auf der einen Seite eine bestimmte ökonomische Rationalität, nämlich einen Überschuß zu produzieren. Er simuliert auf diese Weise quantitatives Wachstum und Expansion in alle Facetten der Lebenswelt. So wird alles Leben tendenziell seiner Rationalität unterworfen. Aber er ist auf der anderen Seite ein destruktives Prinzip, er kann soziale und ökologische Katastrophen erzeugen. Hinzu kommt, daß Tausch von Waren auch immer auch das Nicht-Gelingen des Verkaufs einschließt, daher gegen Krisen nicht gefeit ist. Dies gilt umso mehr, wenn das Geld selbst zur Ware des internationalen Kreditsystems geworden ist und in dieser Eigenschaft „finanzielle Instabilitäten“ globalen Ausmaßes erzeugt. Über Marktversagen sind daher in der kapitalistischen Welt ganze Bibliotheken geschrieben worden; umso unverständlicher, daß in der gegenwärtigen Debatte niemand daran erinnert. Märkte sind paradoxe Einrichtungen: einerseits haben sie die hochgelobte Fähigkeit, für die rationale Zuteilung knapper Ressourcen zu sorgen, andererseits funktionieren sie nur in bereits reichen Gesellschaften. In armen Ländern kann man auch heute noch und wieder beobachten, wie der „Sachzwang“ des Marktes, insbesondere des internatinalen Geld- und Kreditmarktes, ganze Kontinente ökonomisch in die Knie zwingt.

Der Markt bedarf also der Regulation, eine reine Marktwirtschaft wäre eine krasse und für das Zusammenleben der Menschen gefährliche Utopie. Daher wollten wir beim Aufbau unserer DDR die Ware-Geld-Beziehungen auf das unbedingt notwendige Maß beschränken, und gegen die Tendenzen des Weltmarktes haben wir uns durch das Außenhandelsmonopol und die Devisenbewirtschaftung abgesichert. Das Volkseigentum an den Produktionsmitteln hat uns ein machtvolles Instrument der gesellschaftlichen Planung in die Hand gegeben. Wir waren vom Erfolg des Systems, von seiner Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus, der durch Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Krieg weltweit kompromittiert war, überzeugt. Warum sind wir bei der Entwicklung unserer Ökonomie trotzdem gescheitert?

Trotz Jubel frustriert

Wenn das Anreizsystem des Marktes, aus guten Gründen wohlgemerkt, nicht die Aufgabe der ökonomischen Regulation übernehmen soll, dann muß ein anderes an seine Stelle treten. Der zentrale Plan kann ja Interessen nicht außer Kraft setzen und nicht die produktive Fantasie von Millionen Werktätigen ersetzen. Die zentrale Planung mußte also mit einem Projekt der gesellschaftlichen Mobilisierung verbunden werden. Natürlich wußte dies jeder, und doch wurde danach nicht oder so falsch wie nur eben möglich gehandelt. Die Mobilisierung geriet immer kampagnenhaft, blieb eine oberflächliche Angelegenheit der Partei, die sich mit den Erfolgsmeldungen über die 200prozentigen Planerfüllungen selbst bejubelte und die Werktätigen auf diese Weise zutiefst frustrierte. Das System bot tausendfache Möglichkeiten der Leistungsverweigerung, weil Leistung erstens nicht lohnte und zweitens andere Formen von Kritik und Protest innerhalb des politischen Systems strafbewehrt waren. Entscheidungsvollmacht und Verantwortung waren entkoppelt, so daß einerseits unverantwortliche Entscheidungen ohne Sanktionen bleiben konnten und andererseits mangels Entscheidungsfreude der alte Trott auch dann fortgesetzt wurde, wenn die Dinge schon zum Himmel stanken. Daß unter solchen Umständen die Preisrelationen und die Einkommensrelationen - mit den realen Relationen von Kosten und Leistungen nichts mehr zu tun haben, und dann die Planung, von faschen Voraussetzungen ausgehend, nur noch Fehler potenzieren kann, ist leicht zu verstehen.

Wir redeten von sozialistischer Demokratie - und tatsächlich haben unsere Arbeiter in den Betrieben mehr Beteiligungsrechte als die Arbeiter in der BRD unter dem Mitbestimmungs- und Betriebsverfassungsgesetz - doch was nützt die Mitbestimmung im Betrieb, wenn die Planvorhaben von oben deren Spielraum eingrenzten und sie sich dann wesentlich auf die Erzielung und Verteilung von Prämienfonds konzentrierten - und dies mit Tricks und Mogeleien, die die Daten, auf denen wiederum die Planung beruhte, noch mehr verfälschten. Als man das merkte, wurden die Statistiken unter Verschluß genommen oder einem face lifting unterzogen.

Inzwischen haben wir eine Potemkinsche Ökonomie mit einem geschönten Schein und einem weniger schönen Sein. Es sei darauf hingewiesen, daß dies nicht nur ökonomische Probleme erzeugt, sondern die Gesellschaft durch und durch korrumpiert. Offenheit und Ehrlichkeit werden diskriminiert und der bürokratische Trott prämiert. Da werden Menschen zu Zynikern, wenn sie nicht an der tristen Realität verzweifeln und den Weg über die Grenze nehmen. Da jeder dies weiß, regiert das Mißtrauen in der Gesellschaft. Die oben sind, versichern sich gegen das Mißtrauen durch verschärfte Kontrollen und indem sie sich gegen eine solche Gesellschaft, deren Produzent und zugleich Produkt sie sind, abschotten.

Michail Gorbatschow hatte diesen Mangel im Visier, als er nicht nur Perestroika, den Umbau der Ökonomie, in die Wege leitete, sondern auch Glasnost forderte. Das ist die Herstellung einer kontrollierenden, widersprechenden, organisierten, sich streitenden Öffentlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft. In der DDR wurde Perestroika für überflüssig gehalten, da die Potemkinsche Wirtschaft ganz gut lief. Die Idee von Glasnost war für die Gerontokraten viel zu ketzerisch, als daß sie ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. Aber Perestroika ohne Glasnost ist ein Unding, und Glasnost erfordert ihrerseits Perestroika.

Eine kapitalistische Marktwirtschaft kann gegebenfalls (vorübergehend und sicherlich schlecht) ohne Glasnost, d.h. ohne demokratische Institutionen der Öffentlichkeit, auskommen; der Markt besitzt ja sein eigenes System von ökonomischen Anreizen. Länder wie Chile sind Beispiele für autoritäre politische Systeme mit extremer Freisetzung von Marktkräften. Eine sozialistische Wirtschaft hingegen besitzt dieses Anreizsystem nicht, so daß nur die Alternative existiert zwischen sehr weitgehender Vermarktwirtschaftlichung und einer radikalen Demokratisierung der sozialistischen Wirtschaft. Das eine wird von mehr oder weniger wohlmeinenden BRD-Politikern angedient und mit dem Versprechen von Geldspritzen zu versüßen versucht; das letztere jedoch ist unsere Option; wir erwarten weder vom Markt noch vom Kapitalismus eine Lösung unserer und der übrigen Menschheit Probleme.

Zwei Aufgaben sind parallel anzugehen: die Reform unseres Leistungssystems der Wirtschaft, viel radikaler als im „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung“ der sechziger und siebziger Jahre, und infolge der Integration der DDR-Wirtschaft in den Weltmarkt die Herstellung der Währungskonvertibilität.

Zum ersten Problemkreis: Die Ökonomie muß dezentralisiert werden, denn nur so können Initiative, Verantwortung und Leistung auf allen Ebenen stimuliert werden. Natürlich impliziert dies heute die Einrichtung von Marktmechanismen, von denen wir eine Korrektur des Preissystems und eine Differenzierung der Einkommensverteilung erwarten, damit wir uns nicht immer selbst über unsere tatsächlichen Leistungen belügen müssen. Auch sollten einige der großen Kombinate entflochten werden; sie sind viel zu schwerfällig, wenn es um schnelle und innovative Entscheidungen geht. Wir werden unsere Kombinate neu zusammensetzen müssen, um - wie dies die großen kapitalistischen Konzerne (die ja, dies nur nebenbei, viel größer sind als unsere größten Kombinate) auch tun - Synergieeffekte besser als bisher zu mobilisieren. Daß ein Teil des unproduktiven Verwaltungsapparates abgebaut werden kann, ist sozusagen Nebeneffekt der Dezentralisierung einerseits und der politischen Reform andererseits; denn mit der Aufgabe der führenden Rolle der SED entfällt ja die Verdoppelung der Bürokratie in Staats- und Parteibürokratie.

Das zweite Problem, das der Konvertibilisierung der Mark, ist weit schwieriger zu bewältigen. Denn seine Lösung liegt nicht allein im Ermessen der DDR. Die vielen Szenarien von der Abwertungsspirale der Mark und vom möglichen, staatlich subventionierten Ausverkauf der DDR sind so unrealistisch nicht: die Reisenden in den Westen tragen alles zu Markte, was nicht niet- und nagelfest ist, um Westgeld zu erwerben. Auf die Mark würde, wenn dem nicht gegengewirkt wird, ein beträchtlicher Abwertungsdruck ausgeübt werden. Importe würden dann teurer, die Inflation angeheizt, die Mark tendenziell durch die starke DM an die Wand gespielt - auch in der DDR selbst. Wir hätten, wenn wir an der Währungsfront nicht erfolgreich sind, auch die Reformen im Innern verspielt.

Staatsanleihe sinnvoll

Dem kann natürlich entgegengewirkt werden. Wir werden erstens in unserer Ökonomie den Geldüberhang abschöpfen müssen. Nicht durch eine Währungsreform, die heute außer politischen Schwierigkeiten gar nichts bringen würde, sondern möglicherweise durch eine längerfristige festverzinsliche innere Staatsanleihe, mit der wichtige und notwendige Infrastrukturinvestitionen finanziert werden können. Man könnte auch daran denken, die Mittel zur Ausstattung der Außenhandelsbank zu verwenden, um dringend benötigte Importe zu finanzieren, sofern uns ein realistischer Kurs geboten wird. Wir werden zweitens die Mauer offen für den Reiseverkehr halten, aber sie entgegen den Ratschlägen westdeutscher Politiker nicht abreißen. Wir müssen auch weiterhin den Waren- und Währungsverkehr kontrollieren, sonst können wir uns gleich in den DM -Währungsraum integrieren, also die Wiedervereinigung ökonomisch vollziehen. Es gibt kein Land auf der Erde, das die Souveränität über seinen Wirtschaftsraum einfach preisgibt. Die Einigung in Westeuropa ist dafür gutes Beispiel; der Prozeß dauert nun schon 30 Jahre, ohne daß die Zoll- und Währungsgrenzen gefallen wären.

Drittens werden wir mit der Verbesserung der Leistungskraft unserer Wirtschaft verstärkt Waren exportieren müssen. Wenn die DDR-Bürger in den kommenden Jahren sehr viel mehr ins Ausland reisen als Ausländer zu uns kommen, ist die Dienstleistungsbilanz entsprechend negativ; dies muß durch eine entsprechend positive Handelsbilanz teilweise kompensiert werden. Wir werden nur in höchst begrenzter und selektiver Weise von Krediten zur Verbesserung der Produktivität der Wirtschaft Gebrauch machen. Denn wir wollen nicht in Abhängigkeit von der Entwicklung des internationalen Zinsniveaus geraten wie so viele verschuldete und verelendete Länder, die noch vor zehn Jahren dachten, mit äußeren Krediten die Industrialisierung und Modernisierung einkaufen zu können. Finanzinvestitionen sind willkommen, aber unter Konditionen, die uns nicht strangulieren.

Viertens. Wenn die Mark in immer größerem Umfang intern und außerhalb unserer Grenzen gehandelt wird, müssen wir über Fonds verfügen, um den Kurs zu stützen. Wir sind kein Land wie die Schweiz, das seine finanzielle Stärke zum guten Teil bei der Wäsche schmutziger Gelder auf den Nummernkonten von Lugano, Zürich oder Genf alimentiert. Alle anderen Währungen werden nicht nur von der jeweils nationalen Zentralbank gestützt, sondern aus Fonds wie dem IWF oder dem Europäischen Währungsfonds im Rahmen des EWS oder durch Abkommen zwischen Zentralbanken. Ich sehe keine andere Möglichkeit für uns in der DDR, als unsere Währung zu ihrer Stabilisierung in einen supranationalen Fonds einzubringen. Dies ist der Preis für die Öffnung, den wir zahlen müssen. Die Frage ist, ob dies durch einen Beitritt zum IWF geschehen sollte oder durch die Bildung einer von beiden deutschen Staaten getragenen Bank, die auch kursstützende Aufgaben übernehmen könnte. Die Lösung hängt von den Konditionen ab, und die müssen wir sehr bald aushandeln. Unsere Verhandlungsmacht ist nicht nur Resultat der ökonomischen Stärke der DDR, sondern auch der Legitimation der Regierung. Wieder sehen wir den unauflöslichen Zusammenhang von Perestroika und Glasnost: Die Herstellung der Konvertibilität unserer Währung gelingt leichter in einem demokratischen System mit einer demokratisch legitimierten Regierung. Die Demokratisierung in unserem Lande wird also zur ökonomischen Produktivkraft; und umgekehrt ist die Verbesserung der Ökonomie Bedingung für die Entfaltung der Demokratie.