Am Rande des Abgrunds

Dreifachbelastung, Sexualität, Verhütung stehen nicht auf der Tagesordnung der Perestroika / Die Frauen sind zu erschöpft, um sich zu engagieren / Olga Voronina (39), Soziologin an der Moskauer Akademie der Wissenschaften, zieht Bilanz  ■ I N T E R V I E W

taz: Sie vertreten feministische Ansichten. Haben Sie damit nicht Schwierigkeiten im Beruf und im Privatleben?

Olga Voronina: Ich habe das Glück, in einem Institut zu arbeiten, das sich durch große Gedankenfreiheit auszeichnet. Wenn ich nicht sage, daß ich Feministin bin, kann ich offen reden. Das Wort „Feminismus“ ist bei uns ein rotes Tuch, und sie wissen auch überhaupt nichts darüber. Wenn ich sage, ich mache eine „Analyse der Realität“, wird mir sogar häufig zugestimmt.

Wie reagieren Männer und Frauen in Ihrem Bekannten- und Freundeskreis auf ihre Ansichten?

Männer im wesentlichen negativ, obwohl es auch Männer gibt, die meine Ansichten teilen, aber nur sehr wenige. Bei den Frauen ist es anders: Mehr Frauen teilen meine Ansichten, aber es gibt noch furchtbar viele Frauen, die sich den patriarchalen Strukturen völlig anpassen.

Haben Sie das Gefühl, eine Einzelgängerin zu sein?

Ich bin nicht ganz allein. Ich habe einen Kreis von drei bis vier Frauen, mit denen ich meine Ansichten teile. Aber wir als Gruppe fühlen uns alleine, ja. Seit zwei Jahren versuchen wir, an die Öffentlichkeit zu gehen über die Presse, mit Diskussionsbeiträgen und Artikeln. Die Antwort ist völliges Schweigen.

In der Sowjetunion hat das System der öffentlichen Dienstleistungen und Erziehung völlig versagt. Die Frauen machen alles alleine. Warum fordern sie nicht von den Männern, die Hälfte der Haus- und Erziehungsarbeit zu machen?

Natürlich fordern wir das. Aber jede Frau fordert ihren Mann als Einzelne auf. Das gibt Streit und Zwistigkeit in der Familie, weil jedem Mann von Kindheit an eingeimpft wird, daß Hausarbeit und Kindererziehung Frauensache ist. Die Männer helfen schon, sie machen z.B. Einkäufe - in der einen Familie mehr, in der anderen weniger. Aber die kulturellen Normen müßten grundlegend verändert werden.

Mit der Perestroika kommt mehr Marktwirtschaft in die Sowjetunion und damit auch die Tendenz zur Vermarktung der Frau, z.B. in der Pornographie. Mittlerweile kann man nicht nur ausländische, sondern auch heimische Pornoproduktionen im Kino sehen. Wie reagieren sowjetische Frauen darauf?

Journalistinnen beziehen sich darauf, aber eine Frau, die in der Produktion arbeitet bis zum späten Abend, hat gar keine Zeit, sich um solche Dinge zu kümmern und kann also auch nicht reagieren. Oft wissen diese Frauen gar nicht darum.

Kann man in der Sowjetunion mittlerweile Pornos und Sexhefte auch an Kiosken öffentlich ausgestellt sehen?

Nein. Aber die Kooperativen verwenden z.B. Bei der Produktion von Kalendern entblößte Frauenkörper. Dafür gibt es keine Verkaufsbeschränkungen. Außerdem gibt es die sogenannten Schönheitswettbewerbe, organisiert vom Komsomol (kommunistischer Jugendverband, d. Red.). Das ist eine Pornoshow und hat mit Schönheit nichts zu tun. Die Komsomol organisierte noch einen anderen Wettbewerb: „Wer ist die Ehefrau des Jahres 89?“

Die Vergewaltigungen haben zugenommen in der Sowjetunion. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Einerseits ist die Kriminalität bei uns insgesamt gestiegen. Andererseits hat es auch mit der falschen Einstellung zur Sexualität zu tun. Sie wird dann in Sadismus und Gewalt ausgelebt.

Ist bekannt, ob es in der SU auch prügelnde Ehemänner gibt? Wird darüber öffentlich gesprochen?

Das ist eine internationale Tatsache und gilt also auch für die Sowjetunion. Aber es gibt Fälle, wo Frauen für sich einstehen und dann den Mann verprügeln.

Wo können die Frauen, die sich nicht selbst wehren, Hilfe finden?

Bei Freundinnen und Verwandten. Offizielle Stellen, Frauenhäuser gibt es nicht. Es gibt jedoch eine Abteilung im Krankenwesen - die Abteilung für Neurosen. Dort, in der Neurologie beschäftigt man sich auch mit solchen Fällen.

Verhütet wird kaum. Geburtenkontrolle findet über Abtreibungen statt. Hierzulande hört man, daß in den Abtreibungskliniken skandalöse Zustände herrschen sollen.

Ich war selbst dort. Es ist skandalös. Die Behandlung durch das Personal ist erniedrigend und demütigend. Die Frau, die abtreibt, bekommt ihre Verachtung deutlich zu spüren. Aber vielleicht wird die Situation jetzt etwas besser. Neue Methoden, die schmerzärmer sind, werden eingeführt, auch der Mini-Abort, der bis zu 20 Tagen nach Eintritt der Schwangerschaft gemacht wird. Diese Methoden wurden schon früher propagiert, aber sie wurden einfach nicht gemacht. Früher gingen viele Frauen den Weg des Geldes: um die skandalöse und schmerzhafte Abtreibung zu umgehen, bezahlten sie Ärzte privat für eine bessere Behandlung.

Warum gibt es in der Sowjetunion nicht ausreichend Verhütungsmittel? Sie sind doch nicht so schwierig zu produzieren.

Fragen Sie nicht mich, fragen Sie den Gesundheitsminister. Ich sehe darin auch einen Ausdruck des Patriarchats, wenn man es vorzieht, im Ausland löslichen Kaffee zu kaufen anstatt Präservative.

Wird mittlerweile offener über Sexualität und Partnerschaft gesprochen?

Bei uns gibt es noch keine Frauenbewegung, weil die Frauen überhaupt keine Zeit dazu haben. Keine Zeit, darüber zu sprechen und erst recht keine Zeit, sich zu engagieren. Im Zuge der Perestroika nimmt das Problem der Sexualität nicht den ersten, nicht den dritten, vielleicht nicht mal den neunzigsten Platz ein. Denn wir stehen am Abgrund, es geht ums Überleben.

Interview: Gunhild Schöller