Keine Hoffnung für Lenins Enkelinnen

■ Die gegenwärtigen Probleme der Sowjetunion machen es den Frauen noch schwerer / Der Kollaps ist voraussehbar / Glasnost kommt weitgehend den Männern zugute - so ging im Volkskongreß die Zahl der Frauen sogar zurück / Die Gesellschaft wird gewalttätiger

Gunhild Schöller

Die Lage der Frauen in der Sowjetunion wird immer schwieriger und schlechter, und es gibt Stunden, wo ich darüber weinen möchte.“ Larissa Kuznecova, Jounalistin und Autorin aus Moskau, zieht eine traurige Bilanz nach vier Jahren Glasnost und Perestroika. Etwas Schweres schwingt mit in ihrer Stimme, ihr Blick bleibt gesenkt und unter ihren Augen liegen die dunklen Ringe, die bei den erschöpften und überarbeiteten sowjetischen Frauen schon fast erwartet werden. Sie ist eine von drei Russinnen, die die „Frauenakademie“ in der Heimvolkshochschule Glienicke eingeladen hatte. Direkt an der Berliner Mauer, an der Glienicker Brücke, wo seit zwei Wochen plötzlich wieder reger Verkehr zwischen Ost und West fließt, sollten sie über die aktuelle Situation der Frauen in der Sowjetunion berichten. Die Mauer ist brüchig, und Moskau ist von Berlin nicht weiter entfernt als Paris.

Seit 24 Jahren arbeitet Larissa Kuznecova - u.a. für die renommierte Zeitschrift 'Literaturnaja Gazeta‘ - zu Frauenthemen, zu Alltag und Familie. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung resümiert sie trocken und bitter: „Die Gesellschaft ist nicht bereit zu ernsthaften Veränderungen, obwohl ständig darüber geredet wird. Die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht ist die Voraussetzung für Erfolg.“ Die Öffnung in der Sowjetunion scheint für sie in die falsche Richtung zu gehen. Sie spricht nicht über Moral, aber es geht ihr um moralische Erneuerung. Aber diese ist nirgendwo in Sicht.

Einblick in die Lage der Frau gibt Larissa Kuznecova über Artikel und Zitate zur Frauenfrage, die - so scheint es ausschließlich von Männern beantwortet wird. Ein Autor in der 'Prawda‘ vom Februar 89: „Manche Frauen meinen, daß sie in der Produktion erwartet werden. Unsere Mütter wußten, daß sie nirgendwo erwartet werden - außer vielleicht beim Theater, wenn es Frauenrollen zu spielen gab. Niemand erwartet die Frauen außer ihren Kindern.“ Larissa Kuznecova reagiert nicht auf die Empörung der Frauen im Saal. Scheinbar ruhig zitiert sie weiter, was der Schreiber über westliche Feministinnen weiß: „Sie ziehen sich wie Männer an und üben auch männliche Sportarten aus.“ Allgemeines herzliches Gelächter. Dazu Larissa Kuznecova: „Solche Positionen müssen grundsätzlich möglich sein. Aber ich nehme der 'Prawda‘ übel, daß sie diesen Artikel veröffentlichte, ohne ihn als 'Meinung‘, 'Standpunkt‘ oder ähnliches zu kennzeichnen.“

Nach über 60 Jahren Gleichstellungspolitik schrieb der bekannte Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko über die Frauen, die sich um einen Sitz im Volkskongreß bewarben: „Sie (die Kandidatinnen) mögen hervorragende Spezialistinnen im Beruf sein. Aber sind sie auch genügend vorbereitet für eine solche historische Aufgabe?“ Diese als Zweifel und Besorgnis verpackten Angriffe verfehlen nicht ihre Wirkung: Um die Hälfte sank der Anteil der Frauen im Volkskongreß nach den ersten freien Wahlen - von bislang 33 Prozent auf nur noch 15 Prozent.

Schließlich spricht Larissa Kuznecova über das, was sie bewegt: „Mich beunruhigt, daß die Frau jetzt zum Objekt wird, das manipuliert werden kann. Wir haben Nachrichten und Statistiken aus Belorußland, daß sich die Zahl der Vergewaltigungen dort verdoppelt hat. Jeden Tag wird vergewaltigt.“ Sie ist erschüttert. Die Russinnen reagieren auf Gewalt gegen Frauen (noch) nicht resigniert-abgebrüht, wie wir aus dem Westen es uns angewöhnt haben. Kurz vor dem Kollaps

Bei uns im Lande hat gar keine Emanzipierung stattgefunden. Denn Emanzipation erfordert Befreiung der Persönlichkeit und Bedingungen, die Entwicklung in allen Sphären der Gesellschaft zulassen. Für Frauen gab es beides nicht.“ Olga Voronina, Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften, hält sich nicht zurück (s. Interview). „Trotz Gleichheit vor dem Gesetz und Arbeit in der Produktion, mit der sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, sind Frauen Objekte zweiter Klasse. Sie arbeiten in schlecht bezahlten sogenannten Frauenberufen oder in Männerberufen in der zweiten Kategorie. Sie verdienen im Durchschnitt 30 Prozent weniger. Die Arbeit zu Hause beträgt zusätzlich mindestens 40 Stunden pro Woche. Das heißt, die sowjetischen Frauen arbeiten zwei- bis dreimal so viel wie die sowjetischen Männer.“

Das hört sich an wie die Bilanz aus einem Land der Dritten Welt. Olga Voronina sieht die russischen Frauen kurz vor dem Kollaps: „Die Frau ist nicht mehr in der Lage, diese kolossale Belastung auszuhalten. Sie ist völlig abgewirtschaftet und fühlt sich dennoch ständig schuldig.“ Nicht wenige Frauen sähen deshalb eine Lösung ihrer persönlichen Misere darin, nur noch als Hausfrau zu leben. Eine Idee, die vor allem die Presse propagiere. „Aber die Ökonomie hält das nicht aus. Auf die Frauen als Arbeitskräfte kann man nicht verzichten.“ So entpuppt sich die Kampagne für die „Nur-Hausfrau“ als Trick, Haus- und Familienarbeit immer wieder als Sache der Frauen darzustellen.

Olga Veronina spricht im Ausland offen über das, worüber sonst beschämt geschwiegen wird: Sexualität, Gewalt zu Hause und am Arbeitsplatz. „In der Ehe gibt es eine unausgesprochene Vereinbarung: 'Er will, ich will nicht, aber wenn er will, dann wollen wir.'“ Sie zitiert einen Spruch, der unter Frauen kursiert: „Es ist einfacher, es zu machen, als zu erklären, daß ich nicht will.“ Scharf analysiert sie „Nicht-Selbstachtung der Frauen und Entsexualisierung der Ehen.

Sexualkunde an den Schulen gebe es nicht, obwohl ein Pflichtkurs dafür im Lehrplan stehe: „Da wird über alles geredet, nur nicht über das Thema.“ Ein Tabu sind auch sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz: „Alles bleibt auf der Ebene unklarer Andeutungen.“ Frauenräte, Frauendomänen

Ansätze einer Frauenbewegung gab es in der SU öfter, Erfolg hatte sie bislang nie. Den ersten Frauenkongreß erlebte die junge Sowjetunion 1918 - u.a. mit Alexandra Kollontai, der berühmten Kommunistin und Antimoralistin. Frauenräte wurden gegründet, 1933 jedoch von Stalin wieder aufgelöst. Die Zeit zwischen 1917 und 1933 sei zu kurz gewesen sei, so Olga Voronina, um Bewußtsein grundlegend zu ändern. „Diese Frauenbewegung war ja nicht spontan entstanden, sondern von oben. Die Spontaneität und Aktivität der Frauen fehlt heute noch.“

Nach dem letzten Parteitag im Sommer gab es einen Aufbruch: Die Frauenräte wurden neu gegründet. 214.000 solcher Räte gibt es mittlerweile auf der Ebene von Parteikomitees, Betrieben und Wohngebieten. Sie arbeiten selbständig und können Zusammenschlüsse bilden. Aber sie bleiben bislang dem „typisch Weiblichen“ verhaftet: Hilfe bei der alltäglichen Mühsal, die Familie mit Lebensmitteln und Kleidung zu versorgen, caritatives Engagement und Unterstützung dabei, bereits beschlossene Gesetze im Betrieb durchzusetzen. Zerstörung eines Mythos

Noch ist es in der Sowjetunion Aufgabe Einzelner, Tabus zu brechen und Mythen über Frauen zu zerstören. Eine von ihnen: Svetlana Aleksievic, Schriftstellerin aus Minsk und dritte Referentin auf dem Berliner Seminar. In ihrem Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (deutsch im Verlag am Galgenberg, Hamburg) veröffentlichte sie 250 Interviews mit Frauen, wie diese den Krieg erlebt hatten. Eine Million Frauen hatten sich in der Sowjetunion freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Frauen und Männer kämpften zwar in denselben Einheiten, aber „Männer und Frauen waren in unterschiedlichen Kriegen“, so das Ergebnis von Svetlana Aleksievic nach siebenjähriger Recherche. Zuerst fiel ihr auf, daß Frauen und Männer die gleiche Kriegsrealität völlig unterschiedlich wahrnahmen und schilderten - die einen sprachen von Menschen und deren Leiden, die anderen von Maschinen und militärischen Rängen. Dann entdeckte sie, daß die „Helden des großen Vaterländischen Krieges“ die Soldatinnen sexuell verfolgt und vergewaltigt hatten. Eine Frau erzählte ihr: „Am besten war es noch während des Kampfes, da waren Frauen und Männer gemeinsam gegen die Faschisten. Am schlimmsten waren die Kampfpausen. Diese Männer waren vier bis fünf Jahre ohne Frau. Besser wäre es gewesen, es hätte Bordelle gegeben. Aber das ließ unsere Ideologie nicht zu.“ Andere Frauen berichteten, daß der Kommandant ihrer Einheit Soldatinnen mit dem Tod bedrohte, wenn sie ihm nicht zu Willen waren. Er habe gedroht, ihnen eine Aufgabe zu geben, die für sie tödlich enden würde. „Die junge Frau, die das hörte, wußte, daß er das erst gestern mit einem anderen Mädchen gemacht hatte.“ Während in den kämpfenden Truppen noch bestimmte Regeln eingehalten worden seien, herrschte bei den Partisanen die totale Willkür. „Die Soldatinnen waren völlig abhängig von den Machtgelüsten und der Selbstliebe des Kommandanten“, so Svetlana Aleksievic in ihrem Bericht. Nach dem Krieg gab es einen (!) Prozeß gegen einen Kommandanten: Er hatte drei Frauen erschießen lassen, die sich ihm widersetzt hatten.

Svetlana Aleksievic bezeichnet sich selbst als Feministin und legt Wert auf die Differenz: Mann und Frau sind für sie „zwei Zivilsationen“, die sie v.a. biologistisch erklärt. Die Empörung im Saal darüber versteht sie so wenig, wie das Publikum sie versteht. In der allgemeinen Aufregung geht dem Publikum unter, was westliche Feministinnen aus Aleksievics Arbeit lernen könnten: Die Hinterfragung der mit der Waffe kämpfenden Frau. Vom Mythos, es seien die bewaffneten Kämpferinnen, die die letzten Fesseln der Weiblichkeit abstreifen, bleibt nichts bestehen.