Mythologien für alle

■ Von „Zeitgeist“ zu „Einleuchten“: Harald Szeemanns Kunst der Begehung

Ulf Erdmann Ziegler

Harry nennen ihn die Künstler zärtlich, den bärtigen Schweizer Weltgeist Harald Szeemann, dem sich Skepsis, List und Eigensinn ins Gesicht gefurcht haben. „Ausstellungsmacher“ nennt man seinen Beruf, für dessen Anerkennung in Europa eben Szeemann wie kein anderer gesorgt hat (in den USA sind die curators nichts Ungewöhnliches). Szeemann thematisierte in den siebziger Jahren die „Junggesellenmaschinen“ als künstlerische Rebellion, rekonstruierte in den Achtzigern die Theorie und Praxis des „Gesamtkunstwerks“, lenkte die Aufmerksamkeit großer Museen auf den in Italien lebenden Amerikaner Cy Twombly und brachte im letzten Jahr Künstler-Leben und Menschen-Massen in den „Hamburger Bahnhof“ in West-Berlin: „Zeitlos“.

Eigentlich schade, daß sein jüngstes Werk, die Ausstellung „Einleuchten: Will, Vorstel, und Simul in HH“ nicht wieder im Hamburger Bahnhof in Berlin stattfindet, dort am Übergang Invalidenstraße: mit „Einleuchten“ wäre die Westkunst adäquat vorgestellt. Aber „Einleuchten“ ist das große Prestige-Objekt der Hamburger, mit denen die Deichtorhallen „eingeleuchtet“: eröffnet werden. Hundert Meter vom Hauptbahnhof gelegen, waren die Hallen Standort des Blumengroßmarkts. Jetzt sind sie vom Architekten Josef Paul Kleihues zum Kunsttempel ausgebaut: hellgrau ist alles, was nicht Glas ist; ein sehr altmodischer Chic. Was fehlt? Heizungen im Kassenraum und eine Cafeteria.

Es sind zwei Hallen. Die kleinere, fast quadratische, ist eine lichte Industriemoschee, in der die Szeemann-Klassiker in männlicher Eintracht beieinanderstehen. Dan Flavins Konstruktion aus rotem und gelbem Neonlicht, das im spiegelnden Boden zu einem ungeheuren Bonbon verschmilzt, ist hier eine farbliche Sensation; die meisten anderen Werke bewegen sich um Weiß und Schwarz. So die Kohlenstrecke des englischen Legeform-Klassikers Richard Long, die von Flavins Neon zu den seltsamen Objekte des Belgiers Didier Vermeiren führt: schneeweiße Sockel und mit Gips immobilisierte Rollbehälter.

Die Kontinuität der Namen - knapp die Hälfte der 56 Künstler war schon in Berlin dabei - erweckt einen falschen Eindruck: die Ikonographien verschieben sich. Große, geschlossene Schachtelbauten wie der Hartfaserblock von Imi Knoebel (in Berlin) sind in Hamburg nicht zu sehen. Sol LeWitt hat seinen Quader in Hamburg als Gitterwerk materialisiert; und das weiße Haus-im-Haus, das man flüchtig LeWitt zuschreiben würde, ist eine Konstruktion von David Rabinowitsch, begehbar.

So spielen sich die Künstler ihre Ikonographien, Objekte und Materialien zu: Didier Vermeirens Gipsarbeiten, in Berlin nichts als glatte Sockel, sind nun vom Geist Cy Twomblys belebt: Konservierung des nützlichen, beweglichen Objekts in weißer Musealisierung. (Cy Twombly ist nur noch mit einem Bild vertreten.) Und David Rabinowitsch, ehmals Spezialist für schwierige Bodenarbeiten, hat seine Bodennähe abgegeben an Ulrich Rückriem, der flache Schieferplatten exakt gespalten, geschichtet, arrangiert hat.

In der größeren der beiden Hallen („Bitte Türe schließen Es ist kalt!!“) baut Szeemann eine Referenz-Achse: als Künstler-Brücke zur kleineren Halle wieder Richard Long, diesmal mit einem aus hellerem Schiefer gelegten Ring; dann, fast schon zentral, ein doppelter Käfig von Bruce Nauman; in einer Herz-Kammer des Baus ein dampfendes Ungetüm von Beuys; dahinter, auffällig durch Winzigkeit, die matt-bunten Knetskulpturen von Marisa Merz und am Ende, vor der großen Glasfront, die unvermeidlichen Glas-Iglus von Mario Merz.

Die gesamte Anlage ist ein symmetrisches Parzellen-System, das den meisten Künstler(innen) einen ganzen Raum für sich gibt: Szeemanns Prinzip ist, daß sich die Kunstwerke nicht „kommentieren“ sollen; er braucht also Platz (und bekommt ihn). Eine Szeemann-Ausstellung ist besser „ergangen“ als „begrübelt“. Die Plazierung der Kunstwerke, ganz unabhängig von ihrer Qualität, hat etwas Magisches: der Grundriß der Ausstellung ritzt sich in den Kopf, ein Lageplan der Erinnerung. Als wenn die Frage nicht mehr wäre: Was ist Kunst? oder Wie ist Kunst?, sondern: Wo ist Kunst?

Szeemann gehört nicht zu jenen Kunstaktivisten, die zufrieden sind, wenn „ihre“ Künstler (und das sind meist die der eigenen Generation) durchgesetzt sind. Die Künstler von „Einleuchten“ sind zwischen 1913 und 1963 geboren, also ein halbes Jahrhundert des Beginns, des Rückbezugs, des Verwerfens. Dabei fällt auf, daß Szeemann, obwohl er dem glatten, „industriell“ produzierenden Minimalisten Donald Judd Raum gibt, bei den Jüngeren nicht die kalt-postmoderne, sondern die handwerklich-postindustrielle Linie herauskehrt. Da steht etwa, auf ein ovales Kupferpodest montiert, ein mannhohes Textilobjekt eines Thierry de Cordier (geboren 1954): die „Jardiniere“ hat etwas von einem verkohlten Pferderücken. Oder die Arbeit der Jüngsten, Rachel Whiteread (geboren 1963): eine Truhe von seltsamer Schwerkraft. Materialien: Holz und Gips.

Harald Szeemann war einst aufgebrochen, die „indiviuellen Mythologien“ der Künstler zu vermitteln. Nun zeigt sich, daß die Mythologien so individuell nicht sind. Ja, die europäischen Romantiker, die an die schöpferische Kraft im Umgang mit dem Material glauben, bilden fast eine Einheit, ganz gleich ob einer „zurückgezogen in den flämischen Ardennen“ vor sich hinwurschtelt (de Cordier) oder eine ihr Atelier in London betreibt (Whiteread). Das heißt, daß jenseits von Post-Duchamp-Klamauk und prätentiöser Symbolisierung wirklich etwas passiert; daß die europäische Antwort auf die intellektuell-strategische Kunst Amerikas weiter reicht als das vergangene Revival vital-figürlicher Kunst. Joseph Beuys wird - je mehr seine hilflosen Predigten in Vergessenheit geraten - wichtigster Referenzpunkt dieser Kunst sein, die kein „Stil“ ist, sondern eine Haltung.

Ulf Erdmann Ziegler

„Einleuchten: Will, Vorstel und Simul in HH“, Ausstellung von Harald Szeemann in den Deichtorhallen Hamburg, bis zum 18.Februar 1990, täglich außer montags, 10-18 Uhr, Katalog 46 DM. Literatur: Harald Szeemann, Individuelle Mythologien, Merve Verlag Berlin