PEINLICHKEITEN

■ Die Sensibilität für Penetranz stirbt aus - Wir loben uns zu Tode

Die Sensibilität für Penetranz stirbt aus - Wir loben uns zu Tode

Ein Verlust ist anzuzeigen: die Liste der „Peinlichsten Persönlichkeiten“ wird eingestellt. Zehn Jahre lang hat das Satiremagzin 'Titanic‘ eine aktuelle Hitliste der öffentlichen Peinbereiter präsentiert, vor einiger Zeit schon schon war die Zahl der kurz und meist kraftvoll abgefertigten Nullitäten und Ekelerreger von monatlich zehn auf sieben geschrumpft, im nächsten Jahr nun soll es auch mit diesen sieben Geisteszwergen ein Ende haben. Das ist, angesichts von Bestsellergeliste, Politbarometertum, permanenten Bambi-Oskar-Kulturpreis-Getue, kurz: der gesamten professionellen Lobhurerei, durchaus bedauerlich, denn dieser Liste kam der Status eines einsamen Rufers in dieser wüsten Industrielandschaft zu. Auch wenn natürlich längst nicht jeder Peinlichkeitshit ein Treffer war und die Mühe, aus dem Heuhaufen der multimedialen Idiotie die ätzenden Nadeln (und Nudeln) quasi am laufenden Band herauszupicken, auf Dauer einfach zuviel: So schnell wachsen auch auf dem breiten Feld allfälliger Beknacktheit die echten Persönlichkeiten nicht nach. Und wen es ein, zwei Mal erwischte, der war fortan (abgesehen von einem stillen Rang in der Ewigenliste) quasi tabu.

Auf einem ausgewachsenen, in Pracht und Blüte stehenden Peinsack herumzureiten, verbot den Juroren nicht nur der Anstand, sondern auch die Gewißheit, „daß notwendig in jeder Kritik ein geheimes Moment des Einverständnisses mit jener Peinlichkeit liegen muß, auf die sie abzielt. Letzteres gilt vor allem für eindeutige Fälle, deren Peinlichkeit als erwiesen gelten kann, sobald der Name fällt. Die ganze Figur strahlt dann vor existentieller Peinlichkeit und gleichzeitig Zufriedenheit mit einem sakrosankten Selbst, das sonst nur jungen Hunden und schönen Mädchen gegeben ist, die zu beobachten ebenfalls Lust und Pein zugleich verursacht.“

Es gibt sie tatsächlich, diese polemik-immunen Unberührbaren. „Any news are good news“ heißt ein zentrales Gesetz der Medienbranche; es den notorisch Hochfahrenden und Wichtigwedelnden immer wieder und mit Wonne heimzuzahlen befördert sie eher, als daß es sie niederdrückt. Zumal wenn dies unter „Satire“ segelndener Flagge, also mit zugekniffenen Auge geschieht, wobei sich die Autoren den entsprechend kokett-humorigen Ton tunlichst verkniffen. „Peinlichkeit kann ihrem Wesen gemäß zunächst allein individuell empfunden werden. Danach mag sich eine Art kollektiver Übereinstimmung herstellen lassen. Diese im Privatleben meist stillschweigend oder durch Gelächter zu treffende Übereinkunft einer breiteren Öffentlichkeit schriftlich anzubieten und die allgemeine Empfindsamkeit dafür zu steigern war Ziel dieser Kolumne, denn geteilt mit anderen läßt sich die Pein, die uns gewisse Persönlichkeiten regelmäßig bereiten, tatsächlich leichter ertragen.“

Auch wenn dieses Ziel teilweise erreicht wurde und die 'Titanic‘ die Fortsetzung der Peinlichkeitsobservanz (in Form eines Fragebogens) fortsetzen will: der allgemeinen Empfindsamkeit für die Abgründe des Peinlichen und Penetranten müßte weitaus größere Bahn gebrochen werden, als es ein Blatt erreichen kann, das in der Regel den ohnehin schon Bekehrten predigt. Sensibilität für Stuß, ein Draht zur Dummheit, Empfänglichkeit für das Telegen-Eklige und Sinn fürs Schleimige sind einer Kultur, die sich weiterhin ernst nehmen will, unverzichtbar - wer den laufenden Schwachsinn tabuisiert und in die Witzecke schiebt, wer die permanente Tele-Penetranz übersieht, statt sie breit und öffentlich, nach der „Tagesschau“, zu sezieren, entzieht dem Wahren, Wichtigen, Schönen, das uns dort vielleicht entgegenflimmert, jeglichen Boden.

Wo ausschließlich Sieger angehimmelt, aber kein Versager zur Hölle gewünscht wird, wo Geschick, Intelligenz, Genie durchgehend gefeiert, von Dummheit und Inkompetenz aber nie die Rede ist, weil das Pendant zum jubelnden Beifall allenfalls im moderaten Zeigefinger besteht - solche Verhältnissen, wir stecken mittendrin, lügen sich borniert in die Tasche: Sie loben sich zu Tode. Die Therapie kann nur lauten: Rettet die Peinlichkeit! Es es gibt nicht nur den braven Bundesbürger, es gibt immer noch den häßlichen Deutschen. So wie hinter jedem klugen Kopf gern und immer wieder ein Vollidiot steckt. Und in jeder Autorität die arme Wurst...

Mathias Bröckers