Der Aufstand der zweiten Reihe

Nach zwei Turnieren ist die Billard-Welt durcheinandergewirbelt: Ludo Dielis gewann das 4. Berliner Welt-Cup-Turnier im Dreiband und führt die Rangliste an / Dieter Müller belegte 4. Platz  ■  Aus Berlin Meino Büning

Anfang November, vor dem Start der Weltcup-Turnierserie im Dreiband-Billard, war die Welt noch in Ordnung: ganz oben ein Viergestirn, mit dem Fixstern Raymond Ceulemans, den Japanern Komori und Kobayashi und dem neuen, kometengleich aufgestiegenen Weltmeister Torbjörn Blomdahl aus Schweden, der im letzten Jahr drei von fünf Weltcup-Turnieren gewonnen hatte. Dann das Mittelfeld: Dieter Müller aus Berlin, der Franzose Richard Bitalis und Ludo Dielis aus Belgien - sehr gute Spieler, gewiß; aber doch immer einen Hauch unterhalb jener magischen Grenze, die Klasse von Extra-Klasse trennt. Schließlich die Zone des Ab- bzw. Aufstiegs: Spieler, die Qualifikationsturniere absolvieren oder auf eine Wildcard des Veranstalters bauen müssen - ergänzt durch jeweils nationale oder lokale Spieler.

Auf diese Hackordnung konnte man Wetten anbieten - nicht viele hätten dagegen gehalten. Jetzt, nach nur zwei Turnieren in Antwerpen und Berlin, sieht das schon anders aus. Dielis führt klar mit 105 Punkten vor Bitalis mit 72 und Kobayashi mit 63 Punkten - weit abgeschlagen Ceulemans mit 21, Komori mit 15 und Blomdahl mit null Punkten: schon zum zweiten Mal flog er in der ersten Runde raus.

Dabei spielt Blomdahl nicht schlechter als früher: in Antwerpen erreichte er einen Schnitt von über 1,4 Punkten pro Aufnahme - und verlor dennoch glatt in drei Sätzen gegen den Italiener Zanetti, der einen Schnitt von 2,5 produzierte: eine Sternstunde. Derlei kann auch einem Weltmeister widerfahren; und als die Auslosung Dieter Müller gegen Blomdahl stellte, hörte man an Berliner Billard -Stammtischen nur noch Heulen und Zähneklappern: Dieter Müller hatte in Berlin nur einmal in drei Jahren die erste Runde überstanden; die Punkte für seinen fünften Gesamt -Platz hatte er sich auswärts geholt.

Dieter Müller aber, als wäre ihm jetzt schon alles egal, präsentierte sich locker und nervenstark wie nie zuvor; im fünften Satz, zwei zu neun zurückliegend, trieb er den Weltmeister mit seinem rigorosen Verteidigungsspiel in eine Serie von neun (!) Aufnahmen ohne einen einzigen Punkt, führte schließlich 14:9 und brachte nun seinerseits die Zuschauer zur Verzweiflung, bis er endlich den vierten Matchball zum 15:12 verwandelte. Am zweiten Tag besiegte er Bitalis ebenfalls in fünf Sätzen - dann allerdings war die Luft raus: gegen Dielis gelang ihm außer seinem mehrfach vorgeführten Paradeball im engen Spiel an der langen Bande nicht mehr viel, und er verlor glatt in drei Sätzen; auch im Match um den dritten Platz mußte er sich trotz gutem Spiel von dem jungen Japaner Mano im fünften Satz noch abfangen lassen. Dennoch: die 24 Punkte für den vierten Platz sind erst mal ein gutes Polster.

Nervenschlachten sah man zuhauf; manchmal ersetzte die Spannung die Qualität. Es gab die possierlichsten Fehlleistungen und ungläubiges Staunen der Zuschauer, wenn zum Beispiel Kobayashi den angespielten Ball um eine halbe Handbreit verfehlte, Dieter Müller bei einem schwierigen Rückläufer die Kugel vom Tisch beförderte oder Mano und der Spanier Rico in einem Fünf-Satz-Match in holder Eintracht alle Eröffnungen versiebten.

Der Trend zum raffinierten Verteidigungsspiel ließ einen ganz ungerührt: Ludo Dielis, der schon in Antwerpen Dieter Müller in der ersten Runde mit 3:1 ausgeschaltet hatte und dort erst im Endspiel gegen Richard Bitalis verlor, ist nicht wiederzuerkennen. Über Jahre hat er versucht, sein Angriffsspiel dem ungeliebten Satz-System anzupassen, mit kärglichen Erfolgen; jetzt pfeift er auf Verteidigung, verläßt sich auf seine unglaubliche Sicherheit und gewinnt. In allen seinen Spielen machte er einen gleichbleibend starken Eindruck und gewann auch das Finale gegen Kobayashi glatt in vier Sätzen; in diesem Jahr wird zum ersten Mal das Endspiel auf vier Gewinnsätze gespielt. Gerüchten zufolge soll der schwergewichtige Raymond Ceulemans diese Neuerung vorgeschlagen haben - wohl in der Hoffnung, daß Masse Vorteil bringt, wenn ein Spieler nach einem kräfte- und kiloraubenden Turnier auch noch mögliche sieben Finalsätze durchstehen soll.

In Berlin konnte Ceulemans das nicht erproben - Opfer seines Ruhmes, stürzte er bei einem Foto-Termin schwer, spielte angeschlagen gegen den deutschen Vize-Meister Wolfgang Zenkner aus München und verlor prompt mit 1:3. Zenkner unterlag dann glatt gegen Dielis und wurde fünfter.

Insgesamt steht das Experiment Weltcup in einer wichtigen Phase: nach drei Einführungsjahren wollen die Veranstalter jetzt allmählich Mäuse sehen - sprich Werbeeinnahmen und Sponsoren. Für die aber zählt nur eins: die Sendezeit im Fernsehen. So ist es nicht das beste Omen, wenn wegen finanzieller und organisatorischer Schwierigkeiten die traditionellen Turnierplätze Paris und Valkenburg in der diesjährigen Serie fehlen. Und auch in Berlin gab es in der harmonischen Ehe mit dem Fernsehen die ersten Mißhelligkeiten: die Übertragungszeit war deutlich kürzer als zuvor. Das verflixte siebte Jahr rückt näher. Immerhin kann die diesjährige Turnierserie einen besonderen Knüller vorweisen: erstmals ist (neben Palma de Mallorca und dem Abschlußturnier in Yokohama) auch Las Vegas dabei. Einer zumindest hat diesen Ort in angenehmer Erinnerung: Der Spanier Avellino Rico, in Berlin durch seinen 3:2-Sieg über Komori siebter, wurde dort vor einigen Jahren - man spielte noch auf 50 Punkte - Weltmeister. 37 zu 48 lag er gegen Raymond Ceulemans zurück und machte den Belgier mit einer 13er-Serie so kirre, daß der im Nachstoß nur noch einen Punkt erzielte. Eine Wiederholung möchte Rico wohl schmecken - wenn er denn eine Wildcard kriegt.