piwik no script img

Einen intakten Übersiedler, bitte!

■ Gesamtdeutscher Verdrängungswettbewerb auf dem Berliner Arbeitsmarkt / Arbeitsämter heillos überlastet / Jeder vierte Arbeitslose ein DDR-Übersiedler / Langzeitarbeitslose eindeutige Verlierer

Die Arbeitsämter stehen vor dem Kollaps, und ihre Mitarbeiter sind einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Flure werden von DDR-Übersiedlern belagert und machen eine normale Vermittlungsarbeit unmöglich. Im Oktober war bereits jeder vierte Neuzugang bei den Arbeitslosen ein DDR-Übersiedler. Seit dem 9. November nimmt die Entwicklung einen dramatischen Verlauf.

Arbeitsvermittlerin Annegret Schlemminger: „In den letzten drei Wochen sind wir nur noch in der Lage, den Neuzugang an Arbeitslosmeldungen zu bearbeiten. Wir kommen kaum dazu, Vermittlungsvorschläge zu machen.“ Zu den Verlierern der jüngsten Entwicklungen im deutsch-deutschen Verhältnis gehören die knapp 30.000 Langzeitarbeitslosen West-Berlins, die bereits länger als ein Jahr ohne Job sind, sowie die 12.000 Obdachlosen, die in der Regel ebenfalls arbeitslos sind, und die 12.000 ehemals Arbeitslosen und Jugendlichen, die sich in befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befinden.

Im Gegensatz zu den Übersiedlern, die als scheinbar qualifizierte, anspruchslose und disziplinierte Arbeitskräfte bei den Unternehmern der Stadt neuerdings stark nachgefragt werden, werden die Langzeitarbeitslosen nur noch mit der Kneifzange angefaßt. „Manche Arbeitgeber sagen uns direkt ins Gesicht: 'Schicken Sie mir bitte keinen Langzeitarbeitslosen, sondern einen intakten Übersiedler'“, so die Erfrahrung des Referatsleiters für Arbeitsmarktpolitik beim Landesarbeitsamt, Herbert Kranzusch.

Dabei sollte es, so Kranzusch, 1989 im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit endlich zu größeren Erfolgen kommen. 1,5 Millionen Mark stellte der Bund dafür zur Verfügung. Das meiste Geld sollte den Unternehmen in Form von Lohnkostenzuschüssen zufließen, wenn sie einen Langzeitarbeitslosen einstellen. Berlin erhielt 56 Millionen Mark. Genug Geld, um mehr als 2.500 Langzeitarbeitslose in Lohn und Brot zu bringen. Obgleich das Programm bereits seit Juli dieses Jahres läuft, wurden von den Betrieben erst 165 Anträge auf Lohnkostenzuschüsse gestellt.

Zu dieser katastrophalen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hätte es nach Auffassung der ÖTV nicht kommen müssen. Bereits vor dem Eintreffen der Übersiedler fehlten in den fünf Arbeitsämtern der Stadt 400 Mitarbeiter. Die 35 zustätzlichen Stellen, die nach Aussagen des Sprechers des Landesarbeitsamtes, Johannes Kernbach, nun eingerichtet werden, sind nicht viel mehr als Kosmetik. Es fehlt an Personal, das vor Ort mit den Betrieben spricht und ihnen die Modalitäten des Programms zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen erklärt. „Wir werden in diesem Jahr die paradoxe Situation haben, daß wir das Geld, das uns zur Verfügung steht, gar nicht ausgeben können“, erläutert Kranzusch.

Schwere Vorwürfe macht die ÖTV der Bundesanstalt für Arbeit. „Statt die günstige Konjunktur sowie den gestiegenen finanziellen Spielraum der Bundesanstalt für Arbeit für Qualifizierungsmaßnahmen zur Befriedigung der immer wieder beklagten Facharbeitermangels zu nutzen, ist weiterhin die Verwaltung der Massenarbeitslosigkeit durch die Bundesanstalt die Regel.“ Offensichtlich glauben die Verantwortlichen den lange beklagten Facharbeitermangel restlos mit Um- und Übersiedlern besetzen zu können. So verwendet die Bundesanstalt für Arbeit laut ÖTV einen Teil der Arbeitslosenversicherungsbeiträge zur Finanzierung der Sprachkurse für Übersiedler, was einen Mißbrauch darstelle.

Erhard Ott, zuständiger Sekretär der ÖTV in der Arbeitsverwaltung, befürchtet, daß sich ein sozialer Sprengsatz entwickelt. „Die sozialen Schwierigkeiten von Langzeitarbeitslosen wie auch anderer Arbeitslosengruppen, also Ausländer und Frauen, werden immer weniger wahrgenommen. Für die Arbeitsverwaltung wird es kaum möglich sein, sie wieder in Arbeit zu bringen.“

Otts Vermutung erweist sich bereits als Realität: Viele Angebote werden nur für Aussiedler ausgeschrieben. Kernbach dagegen besteht auf der Feststellung, daß es beim Arbeitsamt keinen Vermittlungsvorrang für Übersiedler gebe.

Eberhard Seidel-Pielen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen