Die Hälfte aller Infizierten ist jünger als 25

■ Zum heutigen Welt-Aidstag legt das Panos-Institut ein Dossier über „Aids und Kinder“ vor / Streetworker berichten von neun- und zehnjährigen Mädchen auf dem Strich / Besonders hohe Infektionsraten unter den Straßen-Kids der Metropolen in Lateinamerika

Berlin (taz) - Niemand kennt die genaue Zahl der mit dem Aidsvirus HIV infizierten Kinder und Jugendlichen. Aids bedroht sie zweimal: als Neugeborene können sie von ihren Müttern angesteckt werden, als Heranwachsende sind ihre ersten sexuellen Erfahrungen von Aidsrisiken begleitet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt an, daß weltweit die Hälfte (!) aller geschätzten fünf Millionen HIV-Infizierten jünger als 25 Jahre ist. Unter den bis heute der WHO gemeldeten 186.000 manifest Aidskranken fällt jede/r fünfte in diese Altersgruppe.

Die meisten von ihnen haben sich als Teenager angesteckt. In Zentralafrika werden bis 1992 nach WHO-Berechnungen 250.000 Kinder geboren, denen von ihrer Mutter das Virus übertragen wurde. In der Bronx (New York) kamen dieses Jahre zwei von 100 Kindern mit HIV-Antikörpern auf die Welt.

Zu wenig Aufklärung - Risiko unter Teenagern

Mit zunehmendem Alter wagen Kinder und Jugendliche ihre ersten sexuellen Experimente mit Partnern. Unter befragten US-Teenagern im Alter zwischen zwölf und 17 hatte schon jede/r dritte Geschlechtsverkehr. Eine von zehn Teenies in den USA wird jedes Jahre (ungewollt) schwanger. Jeder 7. Teenager war schon einmal mit einer Geschlechtskrankheit infiziert und damit wegen der Verletzungen im Genitalbereich auch besonders aidsgefährdet.

Die Aidsaufklärung ist aber gerade in dieser Altersgruppe oft katastrophal. In mehreren Ländern, darunter auch in den USA und in Großbritannien, mußte das Unterrichtsmaterial zu Aids in den Schulen komplett zurückgerufen und neu geschrieben werden. Erzieher, Eltern und Kirchen wissen nicht, wann und wie sie ihre Kinder über Aids aufklären sollen. Die Sexualerziehung und Aids werden zunehmend zu einem Schlachtfeld für ideologische, religiöse und moralische Grabenkämpfe. Vor allem die notwendige frühzeitige Einweisung in den Gebrauch von Kondomen ist in vielen Ländern kaum durchsetzbar. Die WHO fordert denn auch pädagogische Aidsprogramme nicht nur für Kinder, sondern vor allem für die Eltern und Erzieher.

Die Situation für die Jugendlichen ist schwierig: „Viele meiner Freunde glauben, daß die Aidssache benutzt wird, um uns vom Sex fernzuhalten“, berichtet der Schüler einer amerikanischen Mittelklasse-Oberschule. Andererseits halten sich gerade Teenager noch häufig für unsterblich und durch Aids unverwundbar. Und vor allem ist selbst in den USA, dem Land mit inzwischen mehr als 100.000 Aidskranken und geschätzten 1,5 Millionen Infizierten, der Großteil der Teenager nicht ausreichend über Aidsrisiken informiert. Nur eine kleine Minderheit von ihnen schützt sich beim Sex mit Kondomen.

US-Experten haben jetzt auf die hohe HIV-Infektionsrate bei Jugendlichen hingewiesen, die Crack rauchen. Der wachsende Crack-Konsum sei begleitet von einem gefährlichen Anstieg der Geschlechtskrankheiten. Viele junge Frauen und Mädchen vor allem aus ärmeren Schichten würden sich prostituieren, um das Geld für die Droge zu beschaffen. Nach Untersuchungen in der South-Bronx ist dort jede/r dritte Crack-User HIV -positiv. Als überwiegender Ansteckungsweg wird heterosexueller Sex angenommen.

Bei den Straßen-Kids ist

Aids eine tagtägliche Gefahr

Besonders stark von Aids betroffen sind die heimatlosen Jugendlichen, die auf der Straße leben. Viele von ihnen haben wegen Armut oder sexuellen Mißbrauchs ihr Elternhaus verlassen (müssen). Studien aus den USA, Afrika und Lateinamerika offenbaren alarmierende Infektionsraten. In Karthum, der Hauptstadt des Sudan, waren bei einer Stichprobe im vergangenen Jahr sieben von 100 Straßenjungen mit HIV infiziert. In New York wurden 1.100 Jugendliche, die auf der Straße leben, untersucht. Unter diesen 16 bis 21 jährigen beiderlei Geschlechts waren ebenfalls sieben Prozent HIV-positiv, wobei sich die Mehrzahl durch heterosexuelle Kontakte angesteckt hat. In Sao Paolo waren unter 8.000 getesteten Kindern und Jugendlichen sogar neun Prozent HIV-positiv. Hier wurde allerdings auch Nadeltausch häufig als Infektionsweg ermittelt. In den Metropolen Lateinamerikas leben insgesamt sieben Millionen Kids auf der Straße. Die Zahl der Infizierten ist nach Schätzungen der brasilianischen Gesundheitsbehören mindestens sechsstellig.

Luis ist einer der Straßenjungen in Rio de Janeiro. Er hat Häuser ausgeraubt und ist auf den Strich gegangen, um zu überleben. Er benutzt keine Kondome, und er kennt auch niemanden unter seinen Altersgenossen, der jemals ein Kondom benutzt hätte. „Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt er, „Hauptsache ich habe zu Essen.“ Streetworker in Brasilien berichten von neun- und zehnjährigen Mädchen, die sich prostituieren. Oft werden sie zur Prostitution gezwungen. Wärme und Zuneigung holen sie sich dann beim Kuschelsex mit Gleichaltrigen. Flavio Braune Wiik von der Aidsorganisation ABIA: „Die meisten von ihnen wissen überhaupt nicht, was ein Kondom ist, oder wie man es gebraucht - und zur Gesundheit haben sie kein Verhältnis.“

Jede dritte aidskranke Mutter überträgt das Virus

Anders als in Europa und den USA, wo vor allem Schwule und FixerInnen von Aids betroffen sind, ist in Afrika der heterosexuelle Übertragungsweg der häufigste. In einigen Ländern Afrikas wie Gabun, Guinea und die Zentralafrikanische Republik ist der Anteil der infizierten Frauen besonders hoch. Nach WHO-Angaben sind mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer infiziert. Entsprechend groß ist das Risiko, bei Schwangerschaften das Kind anzustecken. Frühere Studien nannten eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, daß Neugeborene von einer infizierten Mutter das Virus einfangen. Inzwischen wurde diese Rate auf etwa ein Drittel korrigiert. Dennoch: in Uganda waren im Juli 1988 neun Prozent der gemeldeten Aidsfälle Kinder unter fünf Jahren. In Zentralafrika wurden bis 1987 beinahe 80.000 HIV -infizierte Kinder geboren, in den USA kamen 1988 knapp 2.000 infizierte Kinder zur Welt. Laut WHO entwickelt ein Viertel dieser Kinder schon im ersten Jahr das Vollbild von Aids, 80 Prozent der Kinder erkranken bis zum fünften Lebensjahr.

Viele der infizierten oder kranken Kinder finden keinen Platz. Oft ist die Mutter gestorben oder zu krank, um das Kind aufzunehmen. So bleibt es lange Zeit im Krankenhaus. Im Harlem-Hospital von New York sind ein Drittel aller Patiententage bei Aids nicht medizinisch, sondern sozial bedingt. Die nötige Zuwendung für die Kinder kann das medizinische Personal aber nicht aufbringen. Folge: die kleinen hospitalisierten Dauergäste können weder sprechen noch gehen oder wie andere Kinder spielen. Ohne feste Bezugsperson und Mutterersatz müssen sie warten, bis sich vielleicht doch noch eine neue „Mutter“ findet. Aber welche Familie will schon ein infiziertes oder aidskrankes Kind aufnehmen?

Manfred Kriener

Übersetzt und zusammengefaßt aus dem neuen Dossier des Panos-Instituts: „Aids und Kinder“.