Freier Reiseverkehr

■ Ausgedientes für die Ostler

Der Tourismusbranche bläst der Wind eiskalt ins Gesicht. Bereits seit einigen Jahren überschlagen sich die Hiobsbotschaften: Berge stürzen zu Tal, Robben krepieren vor Sylt, Algen wuchern an der Adria, der Wald siecht vor sich hin. Und die „Bereisten“ proben den Aufstand: In Goa werden massiv die Charterurlauber vergrault, auf Korsika fliegen Bomben in Feriendörfer, Tiroler blockieren die Transitwege gen Süden. Die Touristen selbst stimmen mit den Füßen ab und meiden - so stark wie nie zuvor - die Touristengettos in Playa del Ingles, in El Arenal oder in Cattolica und Rimini.

Plötzlich zeigt sich ein völlig unerwarteter Hoffnungsstreif am Horizont, dort, wo die Sonne aufgeht, im Osten. „Freier Reiseverkehr“ heißt das verheißungsvolle Stichwort. Siebzehn Millionen DDR-Bewohner waren noch nie an der adriatischen Algenküste, konnten noch nie in den Betonplatten-Ferienanlagen auf Mallorca Urlaub machen. Welch eine Perspektive für die bundesrepublikanische Tourismusindustrie, endlich wieder die Überkapazitäten an den von westdeutschen Urlaubern nicht mehr gefragten Sonnenstränden Italiens und Spaniens auszulasten. Was für die Bundesbürger nicht mehr gut genug ist, wird unseren Brüdern und Schwestern aus der Zone bestimmt noch gefallen. Die nehmen doch auch unsere gebrauchten Pullover und Jacken.

Einen kleinen Haken hat das lukrative Geschäft in spe allerdings noch: Das Devisenproblem für die DDRler. Aber Bonn und Ost-Berlin werden sich schon eine Lösung einfallen lassen. Die verbleibende Zeit gilt es zu nutzen, um die neuen touristischen Claims abzustecken und die DDR-Bewohner und Übersiedler für westliche Secondhand-Urlaubsparadiese empfänglich zu machen. So werden flugs Gratis-Offerten angeboten: Der Vorschlag, 10.000 DDR-Übersiedler in den Genuß eines einwöchigen kostenlosen Urlaubs auf den Balearen kommen zu lassen, fand bei den westdeutschen Großreiseveranstaltern, die sich kürzlich in Istanbul zu einer Tagung trafen, spontane Zustimmung. Etwas kleiner macht es ein Münchener Reisebüro und offeriert 1.000 Ostlern Gratisferien an der Adria. Auch der Fremdenverkehrsverband Schleswig-Holstein hat die Zeichen der neuen Zeit erkannt und lädt DDR-Ausreiser für lau in Westdeutschlands Norden ein.

Eine neue Hochkonjunktur für die Tourismusindustrie zeichnet sich ab: Billigurlauber aus dem Osten füllen die ausgedienten Hotelburgen am Mittelmeer. Und für die reiche Klientel aus dem Westen werden sich auf diesem unseren Erdball bestimmt noch ein paar unverbrauchte Küstenstreifen finden lassen. Notfalls an der Ostseeküste der DDR.

Reinhard Kuntzke