„Exemplarische Erfolglosigkeit“

Das dramatische Werk Franz Jungs  ■  „Grosz: Ich halte es nicht mehr aus.

(Franz Jung, Herr Grosz

Die Erkundung eines ungeheuren literarischen Kontinents macht Fortschritte. Der fremde Kontinent, eine schroffe, zerklüftete Landschaft, besteht aus den Werken des Revolteurs und Glückstechnikers Franz Jung, die literarischen Spuren eines wütend-verzweifelten Lebens. Wer zu lesen versteht, wird in dieser Lektüre irritiert und verunsichert. Möglich wird diese Wiederentdeckung durch die erste Werkausgabe Jungs, die seit acht Jahren in der Edition Nautilus erscheint.

Franz Jung (1888 - 1963) wurde gründlich vergessen, oder, je nach Interesse, auf eine seiner Facetten reduziert: Dadaist und Expressionist, Revolutionär und Schiffsentführer, Rätekommunist, Trinker und „kühne, vor nichts zurückschreckende Abenteuernatur“ (George Grosz) sind einige der Etiketten, die ihm aufgeklebt wurden - lauter nicht ganz falsche und nicht ganz richtige Versuche, dieses spröde Leben und Schreiben einzuordnen, verdaulich zu machen, oft genug auch zu vereinnahmen.

Der voluminöse siebte Band der Werkausgabe enthält einen Großteil der dramatischen Produktion Jungs. Fünf der dreizehn Dramen werden hier erstmals veröffentlicht, andere erschienen nur als Bühnenmanuskripte oder waren seit Jahrzehnten nur noch mühsam oder überhaupt nicht mehr aufzutreiben. Damit macht - eine kleine literarische Sensation - die Edition Nautilus hier zum ersten Mal überhaupt den Dramatiker Jung zugänglich. Mit diesem von Wolfgang Storch herausgegebenen und mit einem materialreichen Anhang versehenen Band der Werkausgabe wird eine Übersicht über Jungs Theaterentwürfe, ein genauer Blick auf seine Dramen möglich. Ein Plattkopf, wer von der späten Veröffentlichung (einige der hier erstmals gedruckten Stücke sind vor sechzig oder siebzig Jahren entstanden) auf die Qualität der Texte rückschließen will: Auch Büchners Woyzeck, um ein prominentes Beispiel zu nennen, mußte vierzig Jahre auf den ersten Druck und knapp achtzig Jahre auf die erste Inszenierung warten. Vielleicht sind einige von Jungs Texten erst mit den Möglichkeiten des heutigen Theaters realisierbar.

Jung war kein besonders erfolgreicher Dramatiker. Zu seiner „exemplarischen Erfolglosigkeit“ (Fritz Mierau) gehört, daß bis zu seinem Tod nur vier seiner Stücke aufgeführt wurden: Zwei im Gefängnis geschriebene Agitpropstücke der Revolutionszeit inszenierte Erwin Piscator 1921 in seinem Proletarischen Theater, beide Inszenierungen in Bühnenbildern John Heartfields. Die Rote Fahne berichtete über eine dieser Aufführungen, daß „Spiel und Wirklichkeit in einer ganz sonderbaren Weise ineinander übergehen. Du weißt oft nicht, ob du im Theater oder in einer Versammlung bist, du meinst, du müßtest eingreifen und helfen, du müßtest Zwischenrufe machen .“ 1927 folgte in Dresden Legende - ein Skandal, und 1928, wieder an einer Bühne Piscators Heimweh (Regie: Jung/Leonard Steckel, Bühne: John Heartfield, Musik: Hanns Eisler) - eine Katastrophe. Nach diesem „Absturz“ (Wolfgang Storch) hatten Jungs Stücke lange Zeit keine Chance mehr, auf eine Bühne zu gelangen.

In seinen Dramen variiert Jung die zentralen Themen seines Lebens: die Verzweiflung über die Vereinzelung des Menschen, „das Warum der Konflikte, der übergroßen Schwierigkeiten, die sich einem freudesteigernden Ausgleich der Individualitäten entgegenstellen“ (Jung), der „Kannibalismus“ der sich in blindem Haß gegenseitig zerfleischenden einzelnen, die scheiternden Ausbruchsversuche und revolutionären Hoffnungen.

In einem der für Piscator geschriebenen Revolutionsstücke definiert eine Revolutionärin „die Erweckung der menschlichen Persönlichkeit“ als den eigentlichen „Inhalt der proletarischen Revolution“ - die soziale Umwälzung ist für Jung die Voraussetzung, Mittel zum Zweck der Menschwerdung des Menschen. Ein anderer Revolutionär spricht vor seiner Erschießung von der erstickenden Atmosphäre, gegen die er anrannte: „Aber man spürt manchmal so fürchterlich diese Enge, in der wir noch leben, und man will raus, mehr in die Weite...“ In den beiden Zitaten steckt Jungs lebenslängliches Programm.

Mit dem Blick eines Archäologen liest man heute diese Revolutionsdramen: Texte aus einer Zeit, in der die kommunistische Hoffnung noch nicht völlig durch Parteiapparate und Kadavergehorsam kastriert, noch nicht vom Stalinismus zerstört war. Bei Jung verschmilzt die kommunistische Utopie seltsam mit dem neuen Menschen, den Gemeinschaftsutopien der Expressionisten und eigentümlich religiös gefärbten Erlösungsvorstellungen. Heiner Müller hat die hier formulierte Sehnsucht in einem anderen Zusammenhang als das „Uneingelöste ... der Geschichte“ bezeichnet: „Es ist das, was Benjamin den 'theologischen Glutkern‘ des Marxismus nennt: die Erlösung aus dem Leben in der Tiefe. Vielleicht wird es immer uneingelöst bleiben, aber daraus stammt die Energie aller gesellschaftlichen Bewegungen“ (Müller). Von diesem Uneingelösten, dem „Zuwenig und Nochnicht des Proletariats“ (Jung) erzählen die roh gebauten Stücke. Dramentexte wie Holzschnitte: grobe, schroffe Umrisse der Figuren und Konflikte, eckige, ungelenke Bewegungen, eine oft krude Sprache, harte Schwarzweißkontraste und eine grimmige, böse Lust an den Widersprüchen, in denen sich die Figuren bewegen, an denen sie ersticken.

Nach der abgewürgten Revolution und der Enttäuschung über die Parteibürokratie in der frühen Sowjetunion, nach dem Schriffbruch der politischen Hoffnung bleibt die Verzweiflung: Dieses Leben ist nicht auszuhalten, und die Hoffnung auf ein anderes ist zerstört. Die in dieser Zeit geschriebenen Stücke „sind entstanden aus einer inneren psychischen Not: nach außen gestoßene Fragen. Geantwortet hat niemand“, erinnert sich Franz Jung in seiner bitteren Autobiographie. Jetzt kreisen seine Stücke nicht mehr um Klassenkämpfe („Die Zuschauer werden nicht mehr zu einer Revolution aufgerufen“), sondern um die psychischen Katastrophen, ein Blick, „der alle persönlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht nach außen, sondern nach innen projiziert, in die Fragestellung hinein der Echtheit, der Geschlossenheit, der Begrenzung des Individuums und im Hinblick auf den dramatischen Konflikt: die Explosionskraft dieser Einzelexistenz“ (Jung).

Max Hermann-Neisse schrieb über eines dieser Stücke, daß es mit „einem Minimum an Stoff“ auskomme, den es „in vielfacher Beleuchtung“ zeige. Die Beobachtung gilt für alle Dramen Jungs. Die einander brechenden Wirklichkeitsebenen, das Ineinander-Verschwimmen von geträumter, erinnerter, imaginierter, erlebter Realität, die ineinander stürzenden Zeitebenen, die ins Sichtbare, nach außen projizierten inneren Vorgänge der Figuren, die ständig und oft abrupt wechselnde Perspektive entziehen dem Leser (oder, im günstigsten Fall, dem Zuschauer) ständig den Boden. Alles bleibt im Halbdunkel, oft sind die aneinander montierten Szenen nur assoziativ verbunden. Statt einer naturalistischen Kopie der Wirklichkeit entsteht eine fremde, hermetische Kunstwelt. Nicht nur einander sind die Figuren dieser Stücke fremd, auch dem Leser entziehen sie sich. Sie bleiben ungreifbar, schemenhaft, jedes Oberflächenverständnis, jeder direkte Zugang zu ihnen wird verweigert. Die zwischen den Figuren herrschende Fremdheit, das nicht aufzubrechende Unverständnis ist im Theater nicht zu besichtigen, sondern zu erleben: Nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem zwischen Bühne und Zuschauerraum findet das Drama statt.

Konflikte sind kaum motiviert, oft kann man nur Ausbrüche, richtungslose Explosionen erkennen, ein wildes, verzweifeltes Um-sich-Schlagen, in dem jede Orientierung verloren gegangen ist. Ebenso unmotiviert und plötzlich, deshalb immer etwas unwirklich wirkend, brechen die Versöhnungsgesten, die Glücksmomente in die Stücke ein. Statt einer Entwicklung entsteht ein zielloses Auf und Ab. Häufig werden die Dialogfetzen von Regieanweisungen überwuchert: Der Stoff verschwindet unter einer schwer zu fassenden, nicht mit Erklärungen aufzulösenden Atmosphäre meist eine diffuse Bedrohung, eine erstickende Enge ohne Ausweg. Franz Jung hat sich gewünscht, daß diese Stimmung „in den Zuschauer eindringt, berauschend wie Gift, lähmend oder aufputschend, fortgehend die Dosis steigernd, tiefer die Injektion“.

Einzelne Elemente des zeitgenössischen Theaters (zum Beispiel Filmprojektion, Spruchbänder, Erzähler des epischen Theaters) benutzt Jung. Gleichzeitig ignoriert er auf spannende Weise sämtliche Bauformen des Dramas. Nicht, daß er bewußt traditionelle oder moderne Formen unterläuft, variiert oder zerstört - er kümmert sich schlicht nicht um sie. Statt dessen entstehen - sozusagen im Vakuum merkwürdige Eigenkonstruktionen, seltsam verwinkelt, auch chaotisch, unübersichtlich, verschachtelt gebaute Stücke. Jung liefert oft nur Entwürfe, erste Arbeitsskizzen, angerissene Ideen - szenisches Rohmaterial, keine fertigen, auf die Verwertung im Kulturbetrieb zugeschnittene Produkte.

Jeder Versuch, diese Texte in eine Aufführungsroutine zu pressen, muß scheitern. Ihre verstörende Kraft hat auch nach sechzig Jahren nicht nachgelassen. Den ersten, offenbar gelungenen Versuch, nach 1928 wieder ein Drama Jungs zu inszenieren, wagte erst 1984 Klaus Michael Grüber am Piccolo Teatro Mailand mit Heimweh. Damals schrieb Peter von Becker in Theater heute, irritiert vom „seltsamsten Abend der Saison“, auf der Bühne könne er kein Theaterstück, sondern nur einen „unbegreiflich-bizarren Vorgang“ entdecken. In Deutschland kam Franz Jung, wie es sich gehört, in der Illegalität wieder auf die Bühne: Im letzten Jahr nannte die im Untergrund auftretende Ostberliner Off -Theatergruppe „Medea“ eine in der Improvisation entstandene Szenencollage nach Jungs Theoriebrocken Technik des Glücks. Möglicherweise bleibt Jung nicht der verdrängte Dramatiker, vielleicht entdecken ihn die Theater. Eine neue szenische Erkundung dieses noch immer unbekannten Territoriums unternimmt die Berliner Schaubühne, eines der wichtigsten deutschen Theater: Dort wird im Dezember Heimweh Premiere haben - die erste Inszenierung eines der verstörenden Dramen Jungs auf einer deutschen Bühne seit über sechzig Jahren.

Peter Laudenbach

Franz Jung: Wie lange noch? Theaterstücke, Werke 7. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Wolfgang Storch. Edition Nautilus, 798 Seiten, 64 DM