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In Ecos Labyrinth

■ Der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom sprach im März mit Umberto Eco über dessen Buch „Das Foucaultsche Pendel“

Cees Nooteboom

Zum ersten Mal hörte ich in einer New Yorker Buchhandlung von Umberto Eco. Der Buchhändler zeigte einem Kunden einen dicken Band und sagte, das sei wirklich ein sehr merkwürdiges Buch. Der Kunde kaufte es nicht, aber ich nahm es mit. Es hieß Der Name der Rose, und weil ich zeitweilig in Klosterschulen erzogen worden war, hatte ich das Gefühl, es sei für mich geschrieben. Eco selbst traf ich dann nach einem Vortrag, den er in der Nieuwe Kerk in Amsterdam gehalten hatte. Ich erzählte ihm, daß ich seltsame Ähnlichkeiten zwischen seinem Roman und einer Novelle von Kipling entdeckt hätte. Auch The Eye of Allah, 1926 erschienen, handelt von einem Skriptorium, einem Mönch namens Burgos und einer „zu frühen“ Erfindung. Eco kannte die Geschichte nicht. Vor zwei Jahren trafen wir uns wieder, beide als Teilnehmer eines Symposiums, und ich sagte Eco, daß ich im 'Espresso‘ seinen Artikel über die New Yorker Antiquariate gelesen hätte. Daher wußte ich, daß er Sammler war, allerdings nicht, was für Bücher er sammelte. Ich fragte ihn, ob er einige der verborgenen Schatzkammern Amsterdams kenne, darunter Antiquariate, die sich auf Okkultismus, Alchimie und Gnosis spezialisiert hätten. Dieser Hinweis traf. Er fragte, was ich sammelte, und ich antwortete, daß für mich die Zeit vorbei sei. Zehn Jahre lang hatte ich Bücher über Muscheln gesammelt, von Buonani an bis etwa 1850, aber die ständig steigenden Preise hatten mich zum Aufgeben gezwungen.

Wir gingen zuerst in das Antiquariat, in dem ich früher am meisten gekauft hatte. Es gehörte Nico Israel und ist auf Kartographie, Manuskripte und Naturwissenschaften spezialisiert; sein Bruder Max, den Eco bereits aus eigenem Forscherdrang entdeckt hatte, führt Wissenschaft, Medizin und Kunst. Dieser Nachmittag ist für mich eine kostbare Erinnerung geblieben, zum einen, weil ich nach so langer Zeit wieder diese heiligen Hallen besuchte, und dann, weil Eco, unermüdlich, ständig zum Lachen bereit, mit seiner Stentorstimme und seinem starken italienischen Akzent stets den Kern der Sache traf. Er trug einen blauen Anzug, bewegte sich leichtfüßig trotz seines beträchtlichen Gewichts, hatte immer irgendwo eine Zigarette zur Hand und sprudelte auf die angenehmste Art von Sachkenntnissen über. Nico Israel, ein distinguierter alter Herr, weise und nachdenklich, hatte lange meinen Weg als Sammler begleitet; er konnte zunächst nicht verstehen, warum ich diesen überschwenglichen Italiener anschleppte. Er handelt mit alten Büchern, nicht mit neuen, und vielleicht wußte er nicht genau, wer Eco war. Doch nach wenigen Minuten merkte er, daß er es mit einem Kenner zu tun hatte. Namen, Titel, Ausgaben wurden über den Tisch hinweg ausgetauscht, ein Foliant nach dem anderen wurde aus den großen Regalen geholt, und ich sah, wie ihrer beider Augen leuchteten. Danach gingen wir durch die winddurchwehte Keizersgracht zu Schors‘ Antiquariat. Ich hatte vorher angerufen, denn dies ist kein Ort, wo man einfach hineinspaziert. Schors empfängt jetzt nur noch einige wenige Leute im Jahr. Sein Spezialgebiet ist die Esoterik in all ihren Verzweigungen - das Herzstück von Ecos Sammlung. Man merkte ihm an, wie sein Herz bei diesem Anblick hüpfte. Das Vorspiel begann wie gewöhnlich mit Stöbern, Grunzen, Brummen, Murmeln und einer Inspektion der Regale. Eco kletterte kleine Trittleitern hoch und nahm Bücher heraus. Schors war unerbittlich. Nachdem er mich nach dem Namen dieses seltsamen Italieners gefragt hatte, rief er: „Mister Eco, wenn Sie ein Buch herausnehmen, stellen Sie bitte das andere zurück!“ Zwei Besessene auf einmal. Eco gehorchte und fragte, ob er rauchen dürfe. Kaum hatte Schors höflich verneint, als Eco schon eine Zigarette angezündet hatte. Auch hier setzte sich seine Autorität in Sekundenschnelle durch. Haben Sie das Buch von Soundso, aber haben Sie nicht die frühere Ausgabe aus Florenz? Nein? Tatsächlich! Letzte Woche war ich bei Soundso, und er hatte... Kurz gesagt, zwei gelehrte Telefonbücher unterhielten sich in ihrer Geheimsprache. Ab und zu zeigte mir Eco ein Buch, ich erinnere mich an herrliche Ausgaben von Böhme, Kircher, Burnet. Liebevoll strichen die Finger über die Seiten, und die Bücher wirkten, als ob sie seit Jahren darauf gewartet hätten. Sorgfältig wurde nach fehlenden Seiten geforscht, dann folgte Geschnatter, Gezischel, Imponiergehabe und endlich die Apotheose: „Mr.Schors! Sie sind ein Jude aus Amsterdam. Ich bin ein Italiener aus Alessandria. Wieviel?“ Den Schluß habe ich nicht mehr verfolgt, aber später sah ich in Ecos Bibliothek Bücher, die von Schors stammten. Es gab noch einen anderen unvergeßlichen Moment. Schors zeigte Eco ein besonders prachtvolles Buch über Alchimie und erzählte, daß eine italienische Dame „von ungewöhnlicher Schönheit“, aus Mailand, wo Eco lebt, nicht nur seine Kundin sei, sondern auch auf der Grundlage dieser alten Werke experimentiere. Ich fand das aufregend und hatte diese Frau förmlich vor Augen, eine moderne Hexe von ungewöhnlicher Schönheit, aber Eco wollte nichts davon wissen. „Sagen Sie solchen Leuten nie, daß ich hier war! Mit Gläubigen will ich nichts zu tun haben!“

Unser letzter Besuch galt der Bibliotheca Hermetica Rosicruciana in der Lauriersgracht. Es war ein Nachmittag der drei Kanäle, Amsterdam war wie verzaubert. Wir wurden von dem Bibliothekar Frans A. Janssen empfangen. Zwei Fachleute wissen, was ein Inkunabelnsammler will, also verschwand ich diskret im Hintergrund und sah mir die hier versammelten Herrlichkeiten an. Hier wurde nichts verkauft, jegliches Geschäftsdenken war verbannt. Die Bücher, Manuskripte, Inkunabeln, illuminierten Kodexe hatten von den Räumen Besitz ergriffen, die versammelte gnostische Weisheit, kabbalistische Berechnungen, chymische Hochzeiten und Geheimlehren verbreiteten ein ohrenbetäubendes Schweigen. Ich sah Eco in offensichtlicher Erregung an den Regalen entlanggehen. Plötzlich drehte er sich um und fragte: „Haben Sie keinen Athanasius Kircher?“ Es folgte Schweigen, und dann sagte Frau Ritman, die Frau des Besitzers: „Aber Mr. Eco, Kircher war Jesuit und ein Feind der Rosenkreuzer.“ Er schien einen Augenblick sprachlos, brummelte dann: „Das ist keine wissenschaftliche Einstellung“, und fügte stolz hinzu: „Ich besitze zweiundzwanzig Kirchers!“

Auf der Straße sagten wir uns ein windverwehtes Lebewohl, aber ich mußte immer wieder an diesen Nachmittag denken. Ich war überzeugt, daß Ecos Interesse nicht nur das eines Sammlers war, nicht einmal das eines Forschers, und obwohl ich mich nicht traute zu fragen, war ich mir fast sicher, daß es etwas mit seinem neuen Roman zu tun hatte - falls er überhaupt an einem schrieb. Was ich damals nicht wissen konnte: er arbeitete schon mehr als sechs Jahre daran.

Dieses Buch ist nun erschienen, und es ist der Grund dafür, daß sich unsere Wege zum dritten Mal kreuzten. Man schickte mir die Fahnen der holländischen Ausgabe des Foucaultschen Pendels nach Berlin, wo ich micht zur Zeit aufhalte, mit der Bitte, den Autor in Mailand zu interviewen. Die Fahnen wogen mindestens ein Kilogramm, und mein Kopf wog bald noch mehr. Das Buch beschreibt den Wahn von drei Lektoren, die zugleich Wissenschaftler sind und die einen gigantischen Geheimplan ausbrüten, den sie gleichzeitig entdeckt zu haben glauben - ein Spiel von Wahrheit und Schein, das auf den Gipfel der Absurdität getrieben wird und in dem mit Hilfe von Geheimlehren, kabbalistischen Permutationen, historischen Daten, gnostischen Initiationen und Zahlenkombinationen einPlan für die Weltherrschaft entwickelt wird, der im Verlauf von sechs Jahrhunderten verwirklicht werden soll und in dem der Templerorden, von Philipp dem Schönen entmachtet, aber nicht völlig zerstört, eine bedeutende Rolle spielt. Dem Leser wird nichts erspart

-er taumelt durch ein ewig unfaßbares Labyrinth, eingesponnen in das schreckliche Spinnennetz der drei Protagonisten, die bald entdecken müssen, daß sie sich selbst in das Netz verstrickt haben und nicht mehr herauskönnen. Sie sind selber der Plan geworden und werden die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Das Verderben, in das sie rennen, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Was sie erfunden haben, der geheime Plan, ist für andere Wirklichkeit geworden; die Finsternis, für die sie sich so begeisterten, gipfelt in ihrem eigenen Tod. Der eine, Diotallevi, stirbt an einem metaphorischen, aber deswegen nicht weniger realen Krebs; der zweite, Belbo, wird auf grauenhafte Weise am Foucaultschen Pendel erhängt, von einer okkulten Vereinigung, die ernsthaft an den Plan geglaubt hat, der in Wirklichkeit nie existiert. Der dritte, Casaubon, sieht die „Bestrafung“ für die Erfindung des Plans, die sein Freund Belbo erleidet, mit an und weiß nicht, ob er selbst mit dem Leben davonkommen wird. Seine Frau Lia, die das „verschlüsselte“ Dokument, auf dem die wilden okkulten Phantasien beruhen, als simple Einkaufsliste entlarvt hat, kann ihn nicht retten. Moral: Laß dich nicht mit den Mächten der Finsternis ein.

Der Leser ist inzwischen viele Stunden durch die Finsternis gewandert, zumindest der Leser, der beharrlich den verschlungenen Pfaden von Ecos teuflischem Labyrinth gefolgt ist. Er wird reich belohnt. Nicht nur bekommt er eine Ahnung, weshalb Eco von all dieser Finsternis fasziniert und abgestoßen ist, sondern er erhält auch Einblick in die unbegrenzte Fähigkeit des menschlichen Verstandes, der das Universum mit Hilfe von Systemen zu erklären und zu beherrschen sucht. Was passiert hier nicht alles Revue: die tabula smaragdina des Hermes Trismegistos, das alchimistische opus und diecoincidentia oppositorum, die zehn Sephiroth, Emanationen der göttlichen Allmacht En-Sofs, des unfaßbaren göttlichen Prinzips, das den begrenzten Gott hervorbrachte, der unser Universum erschaffen hat. Nicht umsonst hat Eco die zehn Teile seines Buches nach diesen Sephiroth des Sepher Jezira benannt, aber es würde zu weit führen, hier näher darauf einzugehen. Berlin war sicher nicht der schlechteste Ort für die Lektüre dieses Buches, denn die wunderbare Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz stand mir zur Verfügung, und ich konnte praktisch allen falschen Spuren, die Eco ausgelegt hatte, folgen. Er beginnt jedes Kapitel mit einem Zitat, manchmal aus sehr alten, manchmal aus neuen Büchern. Ich hatte kaum Zeit, die modernen Quellen zu prüfen, ich wollte schließlich nicht verrückt werden. Aber unter den alten Büchern, die ich in einer abgeschirmten Ecke der Bibliothek nachlesen (und genießen) konnte, waren Andreaes Chymische Hochzeit, Straßburg 1616; Paracelsus' De Homunculis, Genf 1658, Pinicellus‘ Mundus Symbolicus. Sie standen nebeneinander vor mir auf dem kleinen Schreibtisch und vermittelten mir das unheimliche Gefühl, unmerklich in den Plan einbezogen zu werden. Halt und Stütze waren mir dieEncyclopaedia Britannica von 1911 (eine Ausgabe, die nie wieder übertroffen wurde) und die Encyclopaedia Judaica, in der ich entdeckte, bevor Eco es selbst enthüllte, warum Belbo, der Autor, der behauptet, nicht schreiben zu wollen, diese hinreißenden autobiographischen, joyceschen Passagen auf einem Computer namens Abulafia schreibt.

Doch genug! Es gibt außerdem ein paar literarische Späße, Anagramme, Anspielungen, die man ahnt, aber nicht erkennen kann. All die verschiedenen Ecos, die es gibt, haben gemeinsam dieses monstrum geschaffen, alle zusammen haben es geschrieben: der Semiotiker, der Kolumnist des 'Espresso‘, der Doktor, der die Ästhetik Thomas von Aquins enträtselt hat, der ruhelose Mann, der nichts Sichtbares in Frieden lassen kann, weder Gedrucktes noch Geschriebenes, nicht einmal seine eigene Reflexion.

Als ich mit der Lektüre fertig war, wurde es Zeit, nach Mailand zu fahren. Da ich wußte, daß sich im Deutschen Museum in München eine Replik des Pendels befindet, stieg ich dort bei der Zwischenlandung aus. Jetzt sah ich es mit eigenen Augen, das Pendel, und für mich stellte es sich vermutlich wegen meiner mangelhaften naturwissenschaftlichen Ausbildung - als Objekt von höchster Magie dar. Natürlich ist es das nicht, es vermittelt ganz einfach einen Eindruck von der Erdumdrehung, aber trotzdem. Als ich in den Turm hochschaute, erschien es meinen verwirrten Augen, als verlöre sich das Seil, an dem das Pendel hängt, in die Unendlichkeit. Und als ich dann den Fahrstuhl nach oben nahm, konnte ich, den Blick von Höhenangst getrübt, die Messingkugel ganz weit unten über dem buntverzierten Kreis sehen, wie sie langsam mit der Bewegung der Erdkugel ausschlug.

Nachdem ich den Ursprung von Ecos Idee gesehen hatte, fühlte ich mich gewappnet für das Interview mit dem Autor, und am nächsten Tag schien es, als ob auch der Autor geneigt sei. Er brüllte mir „Chace“ (Ecos Version meines Vornamens) entgegen und strahlte, als ob wir uns zufällig getroffen hätten. Er stellte mich seiner ernsten Frau mit den schönen Augen vor und zeigte mir seine Bibliothek, in der ich einige Bücher wiedererkannte, aus denen die Zitate stammten, von Schors und aus der Preußischen Staatsbibliothek. Dann zeigte er mir die Trompete, die eine so bedeutende Rolle in dem Buch spielt („Cecilia hat sie mir geschickt“ - aber um das zu verstehen, muß man das Buch lesen), und wollte mit mir zum Essen in das Restaurant gehen, das im Buch Pilade heißt unddeswegen früher Oreste hieß - jetzt, leider, Milano. Ich versuchte, so wenig wie möglich über das Buch zu sprechen, weil ich weiß, wie schwierig es ist, jemanden dazu zu bringen, später noch einmal dasselbe zu einem Thema zu sagen. In Heft 5 von 'Lettre International‘ hatte ich gelesen, daß Eco mit seinen Studenten nicht nur ex cathedra, sondern auch ex pizzeria spricht - Weisheit während des Essens. Diesmal war ich sein Student, und ich ließ mich mit Wein und Weisheit füllen. Später gingen wir im Sonnenschein nach Hause und begannen unsere Unterhaltung.

N: Die erste Frage ist pure Neugier. Als wir damals durch Amsterdam spazierten - ist irgend etwas dabei herausgekommen? Haben Sie etwas gekauft?

E: O ja, ja. Ich blieb in Verbindung mit Schors und mit dem anderen Israel, Max, bei dem ich schon früher gewesen war. Der Besuch bei Schors war sehr wichtig, er hat alles. Nicht immer erstklassig, nicht immer die Erstausgaben... aber er hat sehr viel, und er weiß, wovon er redet.

N: An dem Tag waren wir auch in der Bibliotheca Hermetica Rosicruciana. Wie weit waren Sie damals mit dem „Pendel“? Oder war es schon abgeschlossen?

E: O nein, erst ein Jahr später, im März letzten Jahres. Ich mußte noch verschiedene Sachen nachprüfen. Sehen Sie, das Ganze hatte zwei Seiten. Natürlich arbeitete ich an dem Buch, aber ich hatte für mich immer die Ausrede, daß ich auch Vorlesungen über das Thema hielt. Ich betrachte meine erzählerischen Etüden als Vergnügen, während die Forschung meine Pflicht ist, und so kann ich beides verbinden. Nennen Sie es meinetwegen ein Alibi. Aber das ist noch etwas anderes. Das Material, das ich ausgegraben habe, ist so reichhaltig, daß es ganz gut war, daß ich nicht alles in dem Roman verarbeitete, sondern teilweise auch für meine wissenschaftliche Arbeit nutzte... das macht mich als Autor freier. Sonst hätte sich vielleicht dieses ganze Material zu einer Obsession auswachsen können.

N: Wie haben Sie sich in dieser Bibliothek gefühlt? Eine Festung der Rosenkreuzer ist doch genau das, was zu der Stimmung des Buches paßt. Oder waren Sie schon oft an solchen Stätten?

E: Nicht von dieser Größenordnung. Vielleicht hat mich die Mehrdeutigkeit dieser Bibliothek etwas verwirrt. Einerseits ein Ort der Forschung mit einer seriösen Sammlung und einem Bibliothekar, der mit wissenschaftlicher Methodik arbeitet - und gleichzeitig ein Ort der... der Andacht. Normalerweise sind Forschungsstätten atheistisch - aber hier war ich an einer Forschungsstätte, die gleichzeitig ein Zentrum für Gläubige ist, jedenfalls vom Standpunkt des Besitzers aus. Ich glaube nicht, daß das auf den Bibliothekar zutrifft, er ist ein Fachmann. (Kichern) Lassen Sie mich nichts Negatives sagen, ich korrespondiere schließlich noch mit ihnen!

N: Dieser Bibliothekar hat irgendwo einen Artikel über Sie geschrieben, in dem er Walter Benjamins Ausspruch über Sammler zitiert: „Das Dasein des Sammlers ist dialektisch gespannt zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung.“ Haben Sie den Eindruck, daß das auf Sie zutrifft?

E: Nein, ich denke nicht. Ich habe eine gezielte Sammlung, ich suche nach speziellen Dingen, nicht nach allem. Der eigentliche Sammler, der Besessene, will gewöhnlich alles haben, was mit seinem Thema zu tun hat, unabhängig von seinem historischen oder wissenschaftlichen Wert. Ich war kürzlich in der Young Library in New York, dort ist eine Sammlung, die ein alter Herr zusammengetragen hat, sie enthält alles, was mit dem Gedächtnis zu tun hat. Phantastisch! Manuskripte, Inkunabeln, ganz spezielle Bücher, aber auch närrische Memorabilia, Kaffeetassen, Souvenirs und populäre Bücher darüber, wie man sein Gedächtnis trainieren kann... In dieser Hinsicht ist der echte Sammler dem Chaos ausgesetzt, weil er alles haben will, was nur entfernt mit seinem Thema zu tun hat. Es ist der Unterschied zwischen dem Katalog einer Sammlung und einer wissenschaftlichen Bibliographie. Der erste informiert vollständig über die Sammlung, die zweite nur über wissenschaftlich relevante Titel. Ich bin also bestimmt ein echter Sammler, weil ich leidenschaftlich gerne entdecken, anfassen, haben, besitzen will, aber gleichzeitig bin ich sehr wählerisch. Meine Bücher müssen entweder sehr originell sein oder sehr seriös.

N: Oder sehr selten...

E: Selbstverständlich! Wenn etwas sehr selten ist, ist es von vornherein originell, in der Hinsicht, daß der Altertumswert die Dummheit wettmacht. (Fröhliches Gegacker) Eine Inkunabel, die ein Idiot geschrieben hat, bleibt ein wertvolles Buch!

N: Ich erinnere mich, wie Schors Ihnen von einer jungen, ausgefallen schönen Mailänder Alchimistin erzählt hat. Sie haben ziemlich negativ darauf reagiert.

E: Mit praktizierenden Spinnern möchte ich keinesfalls etwas zu tun haben, mein Interesse ist rein wissenschaftlich. Walt Disney hat Mäuse gezeichnet, er hat nicht mit ihnen gelebt!

N: Der unvermeidliche Borges sagt, die Welt sei eine Bibliothek. Sie sagen in einem Interview mit 'Lettre International‘ - und fügen hinzu, daß es Ihnen gerade in diesem Moment aufgegangen sei -, daß die Bibliothek Gott ist. Sie könnten also im Sinn von Spinoza argumentieren, daß die Bibliothek sowohl Gott als die Welt ist, weil Gott und die Welt übereinstimmen. Das sind alles großartige Metaphern, doch wenn Borges über die Bibliothek spricht, geschieht es mit fast religiöser Inbrunst. Was für ein Gefühl haben Sie, wenn Sie eine der großen Bibliotheken der Welt betreten?

E: Wenn Sie wollen, das gleiche... fromme Inbrunst, aber in dem Sinn, in dem ich auch meine semiotischen Theorien vorlege: daß die Bedeutung nicht ausschließlich ein unfaßliches oder spirituelles Ereignis ist. Eines der großen Probleme meiner Arbeit ist es ja, daß die Bedeutung in meinem Kopf existiert, in Ihrem Kopf oder nirgends, und wie können Sie das erforschen? Es gibt die eine Möglichkeit, daß man versucht, hinter die Bedeutung eines bestimmten Wortes zu kommen, indem man alle Bedeutungen und Interpretationen untersucht, die dieses Wort im Lauf der Geschichte der Zivilisation erhalten hat - und in diesem Sinn kann man sagen, daß die Bedeutung, die totale Akkumulation der verschiedenen gesammelten Bedeutungen, in den Bibliotheken lagert. Die Bibliotheken sind also unser kollektives Gedächtnis, das Gedächtnis der Welt. Ob man das Gott nennen soll oder nicht, überlasse ich jedermanns eigener Einsicht. Jedenfalls ist das, was in einer Bibliothek aufbewahrt wird, sicher mehr als eine Sammlung konkreter Gegenstände.

N: Ich las das Pendel vorwiegend in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin. Man kann sich schlechtere Plätze vorstellen, denn hier waren so viele der Bücher, aus denen Sie zu Beginn eines jeden Kapitels zitieren, daß in mir der Verdacht wuchs, daß Sie die Bücher und Zitate, die ich nicht ausfindig machen konnte, schlichtweg erfunden haben.

E: Garantiert nicht. Jedes Zitat ist nicht nur absolut authentisch, sie alle wurden sogar anhand der manchmal sehr seltenen und alten Erstausgaben überprüft. Die Zitate haben aber auch eine Funktion - sie sind da, um auszusagen: ich erzähle euch die Wahrheit, ich erfinde nichts, ich mache niemandem etwas vor, und selbst, wenn man findet, daß meine Personen unbegreifliche Dinge sagen - es hat immer irgend jemanden gegeben, der sie tatsächlich gesagt hat. Ich spiele ein Spiel, das auch wirklich gespielt worden ist, von wirklichen Menschen.

N: Ihr Rauch ist wirklich...

E: Ja. Ich habe ein äußerst realistisches Buch geschrieben. (Pause, maliziöses Kichern) Emile Zola. Nicht Tolkien - Zola. Alle meine Quellen stammen aus der Wirklichkeit, genauso wie in Bouvard et Pecuchet

N: Aber - und diese Frage stelle ich aus purem Neid, ich habe schließlich gerade Ihre Bibliothek gesehen, und dabei nur die alten Bücher - es ist doch nicht menschenmöglich, all das gelesen zu haben? Wie gehen Sie damit um? Haben Sie einen besonderen Instinkt entwickelt, daß Sie genau das finden, was Sie suchen?

E: Kein Mensch hat alle Bücher in seiner Bibliothek gelesen. Manche liest man mehrmals, von anderen nur ein Kapitel. Aber Sie können sich gerne überall umsehen... Sie werden viele Seiten mit Bleistiftanmerkungen finden. Doch da ist noch etwas anderes. Diese Bücher wiederholen sich, weil die Autoren voneinander abschreiben, und daher kann man eine ganze Menge überschlagen. Meine Aufmerksamkeit war immer auf ein paar ausgefallene Themen konzentriert, auf die verrückte Art und Weise, wie Material gesammelt wird. Aber tatsächlich gibt es endlose Wiederholungen, die auch als solche erkennbar sind. Es ist etwas ganz anderes, wenn man eine Geschichte der Philosophie liest, in der sich Descartes von Spinoza unterscheidet und Spinoza wiederum von Kant.

N: Auf dem Hinweg sagten Sie, daß Sie das Pendel 1952 erstmals gesehen haben. Wußten Sie damals schon, daß Sie sich eines Tages damit beschäftigen würden?

E: Das ist schwer zu sagen. In den sechziger Jahren wurde ich einmal gefragt, ob ich ein Drehbuch schreiben wolle, das mit dem Pendel zu tun hatte - eine furchtbar komplizierte Geschichte, die zu nichts führte. Damals dachte ich: Irgendwann mache ich das selber. Ich ging immer wieder hin, die Atmosphäre dort ist so seltsam, und dachte mir: Das ist ein Thema für einen Film oder für eine moderne Version von Edgar Allan Poe. Im April letzten Jahres passierte etwas Komisches, etwas, das erklärt, warum der Historiker Le Goff so schön über das Pendel geschrieben hat. Bei einem Treffen sagte er: „Wissen Sie, Paris ist voller Überraschungen, voll von Dingen, die ganz bekannt sind und die noch niemand wirklich kennt.“ Und er fing an, vom Conservatoire des Arts et Metiers zu erzählen, das in einer mittelalterlichen Klosterkirche untergebracht sei und wo dieses phantastische Pendel hänge... Er gehe immer mit seinen Kindern dorthin, und irgend jemand sollte irgendwann darüber schreiben, und so weiter und so fort... Ich nahm ihn zur Seite, denn mein Buch war damals noch ein großes Geheimnis, keiner kannte das Thema, und ich erzählte ihm, daß ich daran arbeitete. Als das Buch fertig war, schickte ich ihm ein Exemplar, mit dem bekannten Ergebnis. (Jacques Le Goff schrieb eine ausführliche, enthusiastische Rezension über das „Pendel“ in 'Le Monde‘.) Dieser Ort schreit danach, es ist ein Wunder, daß nicht längst jemand auf diese Idee gekommen ist. Die „modernen“ Objekte aus dem 18. und 19.Jahrhundert bekommen in diesem gotischen Rahmen die Patina des Mittelalters, selbst die Ausstellungsstücke von heute nehmen die Farbe der Vergangenheit an.

N: Aber was hat Sie an dem Pendel selbst so fasziniert?

E: Ich habe das alles am Anfang des Buches eingearbeitet... die Vorstellung von einem genau fixierten Punkt auf der Erde, was natürlich nicht stimmt - weil es ein Punkt auf einer sich drehenden Erde ist. Es ist ein mythischer Punkt, selbst Physiker kommen von der Vorstellung dieses einen Fixpunktes nicht los... Ich sprach darüber mit einem alten italienischen Juden, jemandem, der zusammen mit Fermi die Atombombe entwickelt hat, sagen wir, einem internationalen Experten für Atomstrukturen, einem der Mitglieder des Manhattan Project, jemandem, der alles über moderne Musik, Literatur, Malerei weiß, einem dieser seltenen Menschen. Ich fragte ihn 1984, nachdem ich schon vier Jahre an meiner Dokumentation gearbeitet hatte: Erzählen Sie mir etwas über das Pendel... und er meinte oh, oh, oh und begann mit einer Beschreibung, die genau dem entsprach, was ich gerade schrieb. Das gab mir ungeheures Vertrauen. Es machte mich nicht irre, daß ein anderer dieselben Ideen hatte, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, daß hier die Wahrheit lag.

N: Es ist wirklich ein perfektes Beispiel von Metafiktion - schreiben und gleichzeitig darüber schreiben: Das Pendel ist ein Teil der Erde, weil es auf der Erde ist, und gleichzeitig beschreibt es die Bewegung der Erde, als ob es kein Teil von ihr wäre.

E: Das ist doch genau der springende Punkt Metasprache, und das ist es, was Physik letztlich ist: jemand, der innen ist und das Außen von innen beschreibt. Deswegen ist es vom Logischen und vom Philosophischen her so faszinierend.

N: Ich will nicht behaupten, daß Sie Ihr Buch auf einem Computer geschrieben haben, aber ich habe gerade vorhin diese beiden Zauberkünstler bemerkt, die an Ihrer Maschine herumfummelten.

E: Ah! Sie sind die einzigen, die das können... eine verteufelte Angelegenheit, von einem System in das andere zu wechseln. Ich hatte keinen Zugang mehr zu meinem eigenen Sprecher...

N: Das klingt wie der Aufstand des Zauberlehrlings. Aber was ich Sie gerne fragen würde: Jahrelang haben Sie diesen Computer mit riesigen Mengen von Informationen gefüttert. Hatten Sie nicht das Gefühl, lebendig begraben zu werden, als er anfing, alles auszuspucken?

E: Der Computer ist eine Metapher. Ich habe viel eingegeben, aber nicht mehr als etwa zweihundert Seiten. Wenn ich Ihnen alle meine Unterlagen zeigen würde, könnten Sie sehen, daß es auch zweitausend Seiten mit handschriftlichen Notizen gibt und fünfzehnhundert Bücher mit Lesezeichen, die alle möglichen Textstellen markieren. Mein Gedächtnis setzt sich aus diesen verschiedenen Arten von Material zusammen. Natürlich ergibt das alles zusammen eine Sturzflut an Informationen. Ich wußte zunächst nicht, wie ich es angehen sollte, und während des Schreibens war es unmöglich festzustellen, was ich noch hatte. Aber glücklicherweise fing ich sehr spät mit Schreiben an, und außerdem ist, wie ich schon sagte, vieles von dem Material ähnlich, alles wiederholt sich. Wenn ich gefragt werde, warum haben Sie nichts von Rudolf Steiner zitiert, antworte ich, nun ja, weil ich nur das bringen wollte, was ich unbedingt brauchte...

N: Aber wurde es nicht ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Art Golem, einem Monstrum, das Sie selber erschaffen hatten und das Ihnen nun seine Dienste anbot, in dieser extremen Form mit Tonnen von Daten...?

E: Vielleicht. Aber das gleiche passiert, wenn Sie ein Buch über Frösche schreiben. Wer ein ernstzunehmendes Buch über Frösche schreibt, wird unter Fröschen begraben werden.

N: Ja, aber trotzdem blieb am Schluß noch eine riesige Masse an Material übrig. Ich taumelte durch dieses Labyrinth!

E: Mit Absicht, ich meine, das war meine Absicht. Was Joyce in Finnegans Wake mit Worten getan hat, wollte ich mit Ideen tun - eine einzige gigantische Verschlingung von Ideen: Rauch. Es war eine synkretistische Methode, Ideen zu vermischen, die mir bei meiner Lektüre okkulter Bücher begegneten, und nicht nur das Okkulte, alles gehörte dazu Napoleon, Hitler, Wudu, Descartes. Der einzige Unterschied zwischen Joyce und mir - abgesehen von den ästhetischen Unterschieden - ist: Joyce war der erste, der es mit Worten getan hat, während ich wiederholt habe, was eine ganze Zahl von Leuten im Lauf von Jahrhunderten getan hat. Auch in dieser Hinsicht war ich ein Realist. (Durchtriebenes Kichern)

N: Ja, aber Sie haben es mit dem Computer ausgeklügelt.

E: Ich malte ein Porträt von Leuten, die so etwas machen.

N: Und daran sterben.

E: Die Metapher dafür ist Diotallevis Krebs...

N: Die zweite Figur wird am Pendel erhängt, den brillanten Berechnungen Ihres Atomfreundes entsprechend, und die dritte hat danebenzustehen und zuzusehen (...), und ich hockte während der Lektüre in dem Rauch, den Sie eigens geschaffen haben, damit ich mich in Ihrem Labyrinth verirre. Mit einem unerbittlichen Sinn für Ordnung haben Sie für mich als Leser die Unordnung konstruiert.

E: Es war für jede Stunde des Tages geplant, für jeden Tag der Woche, für jede Woche des Monats und jeden Monat des Jahres - so wurde es von Anfang bis Ende geschrieben.

N: Und der Leser haßt sich, wenn er die Fäden verliert, denn er hält sich für blöd - und dann erklären Sie ihm, daß genau das Ihre Absicht war!

E: (Zufrieden) Bei den Initiationsriten der Eleusinischen Mysterien war Rauch ein höchst wichtiges Element. Nebel, damit niemand wußte, wo er sich befand. Deswegen verwendet die katholische Kirche auch heute noch Weihrauch.

N: Ich darf nicht fragen, wieviel von Ihnen selbst in dieser seltsamen Dreieinigkeit - Diotallevi, Belbo und Casaubon - verboten ist. Aber zwei der drei sind Schriftsteller: Belbo schreibt auf seinem Computer Abulafia, und Casaubon erzählt uns die Geschichte. Oder anders ausgedrückt: Cyril Conolly hat einmal gesagt: „In jedem dicken Mann steckt ein dünner, der kämpft, um herauszukommen.“ Das könnte man auch auf Bücher beziehen in jedem dicken Buch steckt ein dünnes, das darum kämpft, herauszukommen. Manchmal hatte ich den Eindruck, daß Belbo gern aus diesen von Eco/Casaubon geschriebenen Buch herausgekommen wäre, um selbst ein Buch zu schreiben. Natürlich werden Sie sagen, daß das nicht stimmt.

E: Was meinen Sie damit? Daß er deutlicher erkennbar sein wollte oder daß er wirklich aus dem Buch fliehen wollte?

N: Nein, er schreibt ein anderes Buch. Ich weiß, daß das in dem größeren Spiel nur ein Teil des ganzen Buches ist, aber er schrieb so individuell, daß es einem wie ein anderes Buch vorkommt. Ist er Ihnen davongelaufen?

E: Ja, natürlich. Er versucht, Das Foucaultsche Pendel zu schreiben! Aber er schreibt nur die vorbereitende Phase. (Schweigen)

N: Und doch versetzt es ihn in emotionellen Aufruhr.

E: Weil er Das Foucaultsche Pendel nicht geschrieben hat, deswegen. Das ist der springende Punkt.

N: Aber er behauptet immer wieder, daß er kein Buch schreiben will, und dann will er es doch.

E: Er will, aber er kann nicht. Um es ganz klar zu sagen - er hat kein Buch geschrieben. Ich habe es geschrieben. (Lautes, boshaftes Lachen)

N: Aber man kann nicht leugnen, daß er ein richtiger Schriftsteller ist, gelegentlich mit joyceschen Qualitäten. (Während ich das sage, blicke ich auf ein ganzes Regal voller Joyce-Ausgaben.) Man könnte behaupten, daß mindestens zwei ganz verschiedene Schriftsteller in Ihnen stecken. Sie könnten ein Buch durch Belbo schreiben, ohne Rauch und ohne Labyrinth. Aber ich nehme an, daß Sie das nicht interessiert.

E: Nein. Belbo ist sich durchaus klar, daß diese Art Buch schon von allen möglichen Leuten geschrieben worden ist. (Das folgende Schweigen unterbreche ich nicht.) Gut, Chace, Wenn ich einen schönen Roman schreiben würde über einen Jungen, der kurz nach dem Krieg auf einem Friedhof Trompete spielt, oder eine sentimentale Kurzgeschichte über dasselbe Thema (Es ist eine eindrucksvolle Episode in dem Buch, ein Ereignis aus Belbos Leben, und er erkennt erst später, daß dies der Augenblick der Wahrheit war - und angesichts der Trompete hier im Zimmer ist diese Episode zweifellos autobiographisch.) was dann? Diese Geschichte bekommt ihren Wert innerhalb der metafiktionalen Gestaltung des ganzen Buches. Seit meiner Kindheit habe ich diese Geschichte schreiben wollen, aber ich habe nie eine Form gefunden, in der sie nicht so aussah wie das, was andere bereits geschrieben hatten. Endlich gab mir das Pendel diese Gelegenheit. Das Pendel ist die Geschichte seiner selbst, die Geschichte, die erzählt, wie die Geschichte des Pendels erfunden wurde. Das Pendel ist die Geschichte von drei Leuten, die eine Geschichte erfinden, die genau die Geschichte ist, die im Buch vorkommt, die Geschichte von Belbo, der versucht, dieses Buch zu schreiben, es aber nicht kann; die Geschichte, die beschreibt, wie sie die Dokumente finden und wie die Provokationen von allen Seiten kommen, so daß sie mit der Geschichte weitermachen. Meine Protagonisten tun genau das, was ich in diesen acht Jahren getan habe - Bücher sammeln, lesen, Notizen machen. Es ist die Geschichte vom Schreiben eines Buchs, das Das Foucaultsche Pendel heißt, ein Roman, der den Prozeß seiner eigenen Schöpfung beschreibt.

N: Es gibt eine Zeile von Auden, so ähnlich wie „God may pardon Paul Claudel / Pardon him for writing well“. Das Zitat stimmt nicht ganz, aber darauf läuft es hinaus. Sie haben Belbo nicht vergeben. Er stirbt einen grauenhaften Tod. Autoren pflegen ihre Helden nicht so umzubringen.

E: Vielleicht muß man sterben, um die Menschen von seiner Wahrheit zu überzeugen. Nur nach Belbos Tod wurde es möglich, seine Geschichte aus seinem mineralischen Gedächtnis auszugraben. Hätte er weitergelebt, hätte er seinen Speicher weiter vollgeschrieben. Erst nachdem er tot war, wurde es möglich, die wahre Geschichte zu finden, die er nie aufgeschrieben hatte.

N: Für jemanden mit Ihrer Neigung zur Zahlensymbolik muß die Kabbala eine wahre Wonne sein. Nun gibt es zwei Arten oder vielmehr zwei Systeme - das praktische, Maasieth, und das spekulative, mystische, Ieyounieth. Ich vermute, daß Sie eine bestimmte Absicht verfolgt haben, als Sie das Buch, abgesehen von der Einteilung in Kapitel, in zehn Teile gliederten und nach den Sephiroth benannten, Kether, Chochma und so weiter, jedes mit seiner eigenen symbolischen Bedeutung. Oder haben Sie das nur als Methode benutzt, ohne jeden metaphysischen Hintersinn?

E: Sie könnten genausogut fragen, warum Joyce für den Ulysses die Odyssee benutzt hat. Es sind Gerüste, man braucht sie für die Konstruktion, sie sind ein Stützwerk, aus dem man nicht heraustreten darf. Es hätte ebensogut irgend etwas anderes sein können. Aber wenn Sie eine eher unheimliche Bedeutung daraus herauslesen wollen, dann besagt meine Geschichte, daß im Mystizismus der Sephiroth das Problem darin besteht, daß wir uns im Königreich, im Malchuth, befinden und daß man zum göttlichen Urprinzip, En-Sof, zurückkehren will. Ich hingegen fange mit dem Geheimnis von En-Sof an, und ich ende im Exil im Malchuth. Casaubon versteht erst, als er dort angekommen ist, daß seine Wahrheit nur hier gefunden werden kann.

N: Im Leben selbst. (Das Geräusch, das Eco jetzt macht, läßt sich kaum beschreiben; der Ton ist bestätigend, aber es klingt wie ein Peitschenknall oder ein niedersausendes Beil.)

E: Ich stellte also den Baum (der Kabbala) auf den Kopf, und natürlich tat ich das nicht zufällig. Man sucht sich aber eine Konstruktion zum Teil auch deshalb aus, damit man in ihrem Rahmen bleiben kann, und das ist sehr heilsam. Natürlich gibt es metaphysische Aspekte bei den Sephiroth, aber für mich war das wichtigste, daß es zehn sind. Eine Zahl, mit der sich gut arbeiten läßt.

N: In Ihrem Buch über die Ästhetik von Thomas von Aquin haben Sie gesagt, daß seine Vorstellung von transzendentaler Schönheit, seine Theorie der visio, also seine ästhetische Wahrnehmung, seine Hervorhebung der drei Bedingungen für Schönheit, nämlich integritas, proportio, claritas, Jahrhunderte später im Frühwerk von James Joyce wieder auftauchen. Wie würden Sie Ihr Buch mit dieser Elle messen? Oder halten Sie das alles für Unsinn?

E: Nein, es ist kein Unsinn, aber ich akzeptiere diese Frage nicht, weil sie mich zwingen würde, eine Interpretation meines eigenen Romans vor dem Hintergrund meiner Arbeit als Wissenschaftler zu geben. (Anschließend sagt Eco etwas, über das wir beide so laut lachen müssen, daß ich es auf dem Band nicht mehr verstehen kann. Dann fragt er plötzlich mißtrauisch:) Aber wie konnten Sie das überhaupt lesen? Das Buch gibt es nur auf Italienisch.

N: Nein, auch in Englisch.

E: Aber erst seit zwei Monaten.

N: Genau. Ich kaufte es vor zwei Monaten in New York.

E: Sehr gut. Wenn Sie eine letzte Spur meiner thomistischen Studien in meinem Roman finden wollen, sollten Sie bei Lia suchen. Das sagte ich Ihnen schon im Restaurant.

N: Lia steht für die Klarheit des Bewußtseins. Sie liest das sogenannte okkulte Dokument als simple Einkaufsliste

E: Darüber habe ich lange gebrütet. Ein verschlüsseltes spätmittelalterliches Dokument, das zwei völlig verschiedene Deutungen zuläßt...

N: Sie selbst sind Lia.

E: Und Sie selbst haben gesagt, daß es keinen Zweck hat, einen Autor zu fragen, mit welchem seiner Charaktere er sich identifiziert - aber nun gut, einverstanden, Lia sagt, was ich gesagt hätte.

N: Aber es ist zu spät. Die drei sind schon zu sehr in ihrem eigenen Netz verwickelt und nicht mehr fähig, auf die Stimme der Vernunft zu hören. Und außerdem hätte dies das Ende der Geschichte bedeutet.

E: Aber solche Momente kommen ein paarmal vor. Wenn Sie sehr genau lesen, werden Sie merken, daß es schon in Brasilien anfängt, eine Zusammenfassung des ganzen Buches, denn was dort passiert, ist das, was am Ende passiert. Als Lia die Botschaft entschlüsselt und entmystifiziert, ist es zu Ende. Als Aglie sich als der wirkliche Saint-Germain entpuppt, ist es zu Ende...

N: Aber es ist nicht zu Ende.

E: Nein, aber mit dem Plot werden sie gezwungen, sich in einer anderen Richtung zu bewegen. Oder sie hätten aufhören können.

N: Sie hätten aufhören können? Aber Sie konnten es nicht.

E: Nein, ich konnte es nicht. Für mich war jedes Kapitel ein Kap Horn. Während der Schluß vom Namen der Rose schon sehr früh geschrieben war, konnte ich beim Pendel nichts vorwegnehmen; solange das Kap eines jeden Kapitels nicht umschifft war, konnte ich nicht vorhersehen, was danach passieren würde. Sechs- oder siebenmal habe ich es nicht gewußt. Als Soapes... (Dieser Satz wird nicht zu Ende geführt, denn plötzlich leuchten Ecos Augen auf, und er fragt:) Haben Sie gemerkt, daß Soapes ein Anagramm von Pessoa ist?

N: Nein, das hatte ich nicht gemerkt. Aber ich wollte Sie noch etwas anderes fragen. Das gibt es eine ziemlich makabre Stelle in dem Buch, als die drei in ihrem wachsenden Wahn eine Theorie erfinden, wonach der Holocaust durch das Vertauschen eines Buchstabens verursacht wird, Israel statt Ishmael.

E: Da sind sie auf dem Gipfel ihres Wahnsinns angekommen.

N: Sie selber merken, daß sie sich auf gefährlichem Gebiet befinden. Hatten Sie auch dieses Gefühl?

E: Wie ich schon sagte: Ich hörte auf, als ich dachte, sie würden mich zu weit wegführen, aber nicht, weil ich dabei war, verrückt zu werden oder so etwas Ähnliches - ich spreche nur vom Gleichgewicht der Komposition. Sie könnten auch sagen: Das Material hat Sie so in Bann gezogen, daß Sie, statt ein Meisterwerk von zweihundert Seiten zu schreiben, fünfhundert brauchten... Ich kann das nicht beurteilen.

N: Ich meine es nicht als Frage zur Form. Es ist schließlich explosives Material.

E: Genau, und in diesem Moment mußte Belbo sterben. Tot, weg, fort, Buch zu Ende.

N: Sehnen Sie sich, wie Aglie in Kapitel 28, nach der Zeit der Gnostiker, der Neuplatoniker zurück, der „glücklichen Zeit, als die Christen noch nicht an der Macht waren und die Häretiker noch nicht umgebracht hatten. Eine brillante Epoche...“ und so weiter?

E: Aglie wiederholt hier, wie immer, nur etwas, was er irgendwo gelesen hat, Guenon, Festugiere... aber ich bin nicht sonderlich fasziniert von dieser Zeit. So fesselnd auch die Probleme um die Gnostiker sein mögen, für mich ist es nicht dasselbe wie das Mittelalter, wie beim Namen der Rose. Das war meine Zeit. Die andere glich mehr einem Besuch im Kongo oder in Australien. Sehr interessant, aber nicht mein Land.

Dann steht Eco plötzlich auf und vollführt einen kleinen Bärentanz, greift zu einem seltsamen aluminiumfarbenen Instrument, das wie ein futuristisches Saxophon aussieht, setzt es an den Mund und beginnt zu spielen. Auf einmal ist er wieder dieser Junge, der, lang ist's her, auf dem Friedhof spielte, aber ohne die Ernsthaftigkeit jenes Augenblicks. Jedesmal, wenn er eine der Klappen bewegt, bekommt das Instrument einen anderen Klang - Klarinette, Oboe, Trompete... und schließlich spielt es, ohne daß er hineinbläst, wieder so ein verflixter Zaubertrick.

Er lädt mich mit mehreren Philosophen zum Abendessen oder besser Nachtessen ein, um halb zwölf, in das ehemalige Pilade. Als ich zu dieser ungewöhnlichen Stunde das Restaurant betrete, ist er immer noch voller Energie, packt mich, schiebt mich in den Kreis und verkündet laut, mein Name sei „Chace“ und ich sei sehr bedeutend in meinem weit abgelegenen Heimatland. Dann schubst man mich zwischen zwei Philosophen, und einen Moment später bin ich in eine hitzige Debatte verwickelt, bei der es darum geht, ob es moralisch vertretbar sei, daß Eltern die Impfung ihrer Kinder bei einer Polioepidemie ablehnen. Eco trompetet über den Tisch, erzählt Priesterwitze in einem piemontesischen Dialekt, erklärt mir zwischendurch, wer wer ist, und amüsiert sich königlich.

Am nächsten Abend nimmt er mich wieder ins Schlepptau, diesmal zu einer Einladung bei der Modekaiserin Krizia, die sich für Kunst und Literatur engagiert. Ich soll unbedingt kommen, denn ganz Mailand wird da sein, und sie sind es tatsächlich, die Schönen und die Mächtigen, Büffets öffnen ihr Füllhorn, der Champagner fließt in Strömen, Gold und nackte Schultern - es ist die große Woche der italienischen Mode. Die Schöne und das Tier sind erschienen, Teufel, gewandet in Cerutti, tanzen mit Engeln in Armani. Ich höre glockenhelles italienisches Zirpen und japanisches Glucksen, werde Bompianis und Feltrinellis vorgestellt und schwebe mit der Frau meiner Träume über die Tanzfläche. Plötzlich sehe ich, wie Eco einen Kuß auf eine elfenbeinblasse Schulter plaziert und dann zur Musik der Platters auf den Tanzboden walzt, die Zigarette wie eine Waffe zwischen die Zähne geklemmt.

„Haben Sie gesehen“, fragt er mich später, „wie ich zu Only you mit einer Zigarette im Mund getanzt habe?“ Ja, ich habe es gesehen, und auch, wie er sich mit seiner eindrucksvollen Statur wie eine Feder zwischen all die Engel und Teufel schob, wie die Last seiner Werke vorübergehend von ihm abgefallen war. Er war nicht der Mönch aus dem Namen der Rose oder der geheimnisvolle Gnostiker aus dem Pendel, nicht der Autor vor einem Hundert schwieriger semiotischer Texte oder der Interpret linguistischer Geheimnisse, sondern der tanzende Derwisch des angenehmen Lebens. Erst als fast alle gegangen waren, war auch er bereit, nach Hause zu gehen. Vor meinem Hotel zog er mich in eine mediterrane Umarmung, sagte noch einmal „Chace“ und faltete sich zusammen in die kleine gelbe Schachtel eines Taxis - auf dem Weg zurück zu seiner Bibliothek.

Das Gespräch wurde im März 1989 geführt.

Übersetzung: Marianne Menzel

Wir danken dem Hanser-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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