Wird Zeit, daß wir leben

■ Hoffung ist das Motiv des Denkens / Von Annelie Keil

Die Hoffnung der linearen, „männlichen“ Zeit ist die Hoffnung, die gleichsam von Resultat zu Resultat schreitet. Noch während man das eine tut, tritt das andere schon auf die Bünne. Von Genuß und Ruhe, von Erleiden und Durchleben, von Befriedigung ist nicht die Rede.(...)

Das lineare Denken ist mit seiner Zeitberechnung an das Ende seiner Möglichkeiten gekommen. Wird es so einseitig fortgesetzt, bezahlt die Menschheit mit dem Tode, was einzelne Menschen schon jetzt tun. Partikulares Denken ist ein zeitlich und räumlich eingegrenztes Denken, ein Binnen -und Inlanddenken, das jedes andere, jedes Draußen zur Gefahr, zum Gegenspieler und Kontrahenten wird. Dem Nutzer der Zeit steht der gegenüber, der die Zeit verstreichen läßt, dem aktiven Mann die passive Frau, dem stetig wachen Erwachsenen das träumende Kind. Gegen die Zeitvertreiber ist Sicherung nötig - und das bedeutet letztlich Krieg, denn sicher ist man erst dann, wenn die anderen sich untergeordnet haben oder vertrieben wurden. Den alltäglichen Zeitimperialismus kennen wir gut. Das Inland - die Fleißigen, Pünktlichen, Erfolgreichen - wird glorifiziert, das Ausland - die Nur-Hausfrauen, Gammler, Arbeitslosen, Asylanten - wird dämonisiert. Im Zeitdenken dieser Art sind alle Kriege Verteidigungskriege - selbst im Krieg gegen sich selbst verteidigt man die Bedürfnisse der Familie, deren Lebensstandard man halten will. Die Angst vor der Weite, vor der Unendlichkeit ist sicher eine wichtige Ursache für partikulares, zeitlich eingeengtes, ausschnitthaftes Denken. Aber der Ausschnitt ist nicht das Leben selbst. Leben versucht immer wieder, die Grenzen, die man ihm gesetzt hat, zu überschreiten.(...)

Wird Zeit, daß wir leben - nicht nur die anderen. Wer Perspektiven für andere entwickelt, muß sich wenigstens mit den eigenen anfreunden. Auf dem Marsch durch die Institutionen haben wir uns selbst wieder besseres Wissen viel zu oft liegen gelassen. Wird Zeit, daß wir leben! Wenn wir unserem Leben keine Zeit geben, mischt es sich selbst ein, mit Symptomen Sehnsüchten, Verweigerungen, Defekten und anderem mehr. Mit großen Erklärungen beenden wir manchmal Beziehungen, denen wir nicht einml die Zeit zur Entwicklung gegönnt haben. Wird Zeit, daß wir leben. Das heißt auch, daß wir Zeit erleben. Das wiederum bedeutet: Unberechenbares ohne Angst zu akzepieren, nicht allem vorzugreifen, auf wirklich Erlebtes zurückzugreifen, das Gewesene erhalten und das Unmögliche zulassen, Veränderungen nicht als Verlust zu betrachten und dem Augenblick Bedeutung zu geben.

Aus: Annelie Keil, Gezeiten. Leben zwischen Gesundheit und Krankheit, Kassel 1988