Wenn der Schmerz nachläßt, merkt man, wie tief er sitzt

Biermanns erste Auftritte in der DDR nach 13 Jahren / 5.000 feierten den Liedermacher in Leipzig / Rundfunk und Fernsehen übertrugen die Veranstaltungen in Ost und West / Das Publikum honorierte seine Anbrechnungen mit den Politbüro-Bonzen, reagierte aber skeptisch auf sein Festhaltem am Sozialismus  ■  Von Max Thomas Mehr

Am Ende ist ihm nicht nur ein Fingernagel abgebrochen, sondern auch die Stimme weggeblieben. Dreieinhalb Stunden hat der vor 13 Jahren ausgebürgerte Liedermacher und Poet Wolf Biermann am Freitag abend in der kaum beheizten Leipziger Messehalle, einer „Tiefkühltruhe“, wie er selbst hinterher sagt, gegen die Kälte und den Smog, der vor der Halle nicht halt macht, angespielt.

Die Rückkehr, sein erstes öffentliches Konzert in der DDR nach 25 Jahren, ist von vornherein ein historisches Ereignis. Dies und andere Umstände wie die im Grunde genommen unzumutbare Akustik, der immense Erwartungsdruck der Medien und des Publikums sind eine kaum zu bewältigende Herausforderung an den Künstler. Es ist ein Drahtseilakt mit Höhenflügen und Abstürzen, weniger Konzert als politischer Auftritt.

Die Fahrt über die Grenze, der Krach im DDR-Kabinett um das Konzert die Tage zuvor sind symptomatisch für die ganze Reise. Zwar hat Modrow über den neuen Kulturminister Dietmar Keller Grüße ausrichten lassen. Im übrigen hat sich Keller für den Rausschmiß der vielen formell entschuldigt. Trotzdem hatten alle Angst, daß es an der Grenze Schwierigkeiten bei der Einreise gebe könnte. Für alle Fälle war ein telefonischer Kontakt zum Kulturminister vereinbart.

5.000 sind gekommen, ein gemischtes Publikum, zwischen 18 und 50 Jahre, in gefütterten Winterjacken. Nicht alle harren bis zum Ende aus. Im Raum steht unausgesprochen vor allem eine Frage: Wird der so lange verbotene Künstler nach so vielen Jahren noch den Nerv des Publikums treffen?

„Für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte spielen solche Leute wie er eine ganz entscheidende Rolle.“ Der Leipziger Konzertbesucher aus Rostock ist so alt wie das Auftrittsverbot. Von Biermann und seinen Liedern hat er vor drei Jahren das erste Mal gehört. Für ihn wird er erst heute mit seiner Rückkehr zum Symbol.

Mit Ovationen wird der Liedermacher auf der Bühne empfangen: „Ich bin sehr froh, sehr aufgeregt. 25 Jahre wurde ich verboten, und ich werde nie vergessen, wem ich dieses Verbot zu verdanken habe. Ich werde aber auch nie vergessen, wem ich zu verdanken habe, daß ich heute hier singen kann: euch.“ Am Anfang singt er das von ihm selbst übersetzte jiddische Lied „Soll sejn“, ohne Gitarrenbegleitung. Und danach, während er erzählt, spielt er ganz leise die Melodie der letzten, noch in der DDR vor 13 Jahren geschriebenen Ballade vom Preußischen Ikarus, dessen Refrain seine Situation 1976 genauso treffend beschrieben hat wie heute: „Ich halt mich fest hier, bis mich kalt/ dieser verhaßte Vogel krallt/ und zerrt mich übern Rand/ dann bin ich der preußische Ikarus/ mit grauen Flügeln aus Eisenguß/ dann tun mir die Arme so weh/ dann flieg ich hoch - dann stürz ich ab/ mach bischen Wind - dann mach ich schlapp/ am Geländer über der Spree.“

Aus zehn Tagen sind dreizehn Jahre geworden, „kleiner Umweg“, meint er sarkastisch und ironisch zugleich von der Bühne herab und auch: „Wenn der Schmerz nachläßt, dann bemerkt man erst, wie tief er saß.“ Seine politische Botschaft an diesem Abend und auch am Samstag in Ost-Berlin ist eindeutig: Bewunderung für die demokratische, gewaltfreie Revolution, Haß auf die Bonzen, die vierzig Jahre lang verhinderten, daß die DDR ein sozialistisches Land wird, und gleichzeitig ein romantisches Festhalten am Sozialismus mit menschlichem Anlitz als Alternative - auch zur Bundesrepublik. „Hey Krenz, du fröhlicher kalter Krieger, ich glaub dir nichts, kein einziges Wort/ Du hast ja die Panzer in Peking bejubelt“ - immer wieder wird er von Jubel unterbrochen, muß neu anfangen, „Die Ballade von den verdorbenen Greisen“, die Abrechnung mit Krenz, Honecker, Mielke und Schnitzler ist Höhepunkt in Leipzig. Da, wo Biermann mit den Bonzen abrechnet, kommt er beim Publikum an, ist der Kontakt zu den 5.000 wie elektrisiert. Auch das Gorbi-Lied wird stürmisch gefeiert. Und „Die Ermutigung“, die er ganz anders singt, gegen den Strich, viel widersprüchlicher als diejenigen, die dieses alte Biermann -Lied zum Kirchenschlager gemacht haben.

Der Kontakt zum Publikum ist immer dann schwierig, wenn der Generationsunterschied deutlich wird, etwa beim Vortrag des „Berliner Liedchens“, seines Beitrags zur entflammten Wiedervereinigungsdiskussion, in dem es sinngemäß und gemünzt auf die DDR-heute heißt: Der Traum der Commune, der schlief nur und ist lange noch nicht tot.

Die Pariser Commune, vor 20 Jahren noch Synonym für einen subversiven, einen anderen Sozialismus - mit menschlichem Anlitz, damit hat das DDR-Publikum heute seine Schwierigkeiten. Der Sozialismus ist bei ihnen auf eine Weise diskreditiert, daß all sein glänzendes volkspädagogisches Mühen für einen anderen Sozialismus nur höflichen, gedämpften Beifall erntet.

Der zweite Abend in Ost-Berlin, zusammen mit anderen rausgeschmissenen Liedermachern und solchen, die in der DDR leben, bestätigt die Diskrepanz zwischen Publikum und ihm, aber auch den anderen Künstlern und dem Publikum. Deutschland - Sozialismus - Kapital waren das Thema der Diskussion. Wolf Biermann, aber auch die meisten anderen Diskutanten halten am Sozialismus fest, während das Publikum von Modellen die Schnauze voll hat.

In die Podiumsdiskussion mit den Pfarrern Schorlemer, Eppelmann, mit Bärbel Bohley und anderen Intellektuellen der Opposition fügte sich Wolf Biermanns Argumentation, sein Plädoyer gegen Wiedervereinigung und für die sozialistische Alternative DDR nahtlos. Trotzdem blieb am Ende das Gefühl, daß der tatsächliche Einfluß dieser Opposition auf den Gang der Geschichte abnimmt, das Volk längst woanders hinwill, vielleicht gar nicht weiß, wohin, und die Opposition dieser Volksbewegung hinterherhechelt.