„Es schaut immer ein nacktes Bein heraus“

■ Ein Gespräch mit Volker Kluge über den DDR-Sport und seine Zukunft, über Journalismus und die sich ändernde Medienlandschaft

taz: Im neuen NOK-Report der Bundesrepublik schreiben Sie, die Situation des Sports in der DDR sei verwirrend. In den vergangenen Tagen hatten sie nun lange Treffen mit der Vereinigung der Sportjournalisten und dem Bundesvorstand des DTSB. Sehen Sie nun klarer?

Kluge: Etwas deutlicher schon. Bisher waren ja nur sehr unterschiedliche Meinungen zu hören, man wußte aber nicht, wie die Mehrheiten sind. Demokratie ist ja ein bißchen kompliziert, ohne breiten Konsens kann man nichts machen. Zumindest das ist allen klar.

Gibt es denn echte Neuigkeiten?

Es wurden Richtlinien erarbeitet, wie der Sport in der Gesellschaft eingebettet werden könnte. Zuerst: Der Sport gehört mit zum Besten in der DDR, da steht die Frage der Erneuerung nicht so krass wie in anderen Bereichen, die Ausgangsbedingungen sind besser. Wer den Leistungssport anzweifelt, ist unehrlich oder hat keine Ahnung. Allerdings ist vieles vernachlässigt worden, weil die materiell -technische Basis fehlte.

Eine konkrete Veränderung: Im Fußball wird es künftig eine Transferliste geben. Heißt das, wenn schon Ausverkauf, dann wenigstens für viel Geld?

Auf jeden Fall. DDR-Kaufleute müssen nicht dümmer sein als kapitalistische. Nur Profisport wird es in der DDR nicht geben, dafür fehlt alleine der Marktmechanismus. Aber es werden sicher einige in die Bundesliga gehen.

Und dort spielen sie als Ausländer?

Das entspricht unserer Zwei-Staaten-Theorie, die von der FIFA sanktioniert ist.

Die (Ost-)'Berliner Zeitung‘ fürchtet, die Spieler könnten von den Westvereinen finanziell überzeugt werden, den Paß zu wechseln.

Die internationalen Regeln könnten da als Bremse wirken, auf der Ebene des Hochleistungssports zumindest. Alles was drunter ist, Kreisligaebene usw., hat da keine Schranken, und viele sind schon weg. Da verlieren wir viele Talente. Aber wir wollen niemand festketten, es wird auch für Fußballer und andere eine Altersgrenze geben, nach deren Erreichen sie ins Ausland gehen können.

Dann spielt der Stürmer von Bremen mit 15.000 Westmark im Monat neben dem von Dynamo in der Nationalmannschaft, ganz ohne Spannung?

Es ist vorstellbar, daß dann arme und reiche Fußballer zusammenspielen.

Sie werden denen in der DDR mehr bezahlen müssen.

Die Frage kann nur die Bevölkerung beantworten, ob sie bereit ist, auf diese Art die soziale Harmonie zerstören zu lassen.

Bei uns wird geprüft, ob das Transfersystem verfassungskonform ist, die Rede ist von „Versklavung“. Da machen Sie mit?

Das kommt mir auch seltsam vor, wir haben ja selbst nicht gespart mit Kritik an diesen Methoden. Aber das eigene Ideal gilt nicht für alle.

In Ihrer Zeitung stand: „Vieles scheint frei vom westlichen Nachbarn und schnell übernommen.“ An wen geht die Kritik?

Manches geht jetzt explosionsartig, und Geld liegt ja im Leistungssport auf der Straße. Aber ein unattraktiver Leistungssport ist auch nicht zu vermarkten, das ist die Zwickmühle. Derzeit sind wir interessant, weil wir in einigen Bereichen absolute Weltspitze sind. Das Absinken wollen wir verhindern.

Zurück zur Kritik.

Ein nationales Sportsystem der DDR kann niemals mit den hochentwickelten kapitalistischen Ländern konkurrieren. Unsere Gesellschaft wird nicht soviele Mittel zur Verfügung stellen können, wie das Ihre Konzerne mit ihren Werbefonds tun. Einzelne haben da andere Vorstellungen, da lockt der Profisport, die Vermarktung, sollen Rennställe entstehen. Den Wettlauf des Geldes werden wir nie gewinnen. Sport soll nicht primär Quelle von Profit sein. Wir brauchen deshalb nicht auf bestimmte Gelder verzichten, aber es soll in den Sport zurückfließen, um die Erfolgskette nicht abzuschneiden.

Wer bekommt denn die 200.000 Westmarkt für die Trikotwerbung des Handballnationalteams?

Über die Verteilung ist nicht entschieden, da ist manches unklar.

Die Gelder werden verteilt werden müssen.

Sicher wurden viele Sportarten, die sogenannte Abteilung 2, nicht gefördert und damit diskriminiert. Manche halten das unverständlicherweise auch heute noch für „historisch richtig“, weil man eben damals nicht alles machen konnte. Die Ungerechtigkeit beginnt aber dort, wo man einer anderen Sportart jede Chance nimmt.

Wenn Marktmechanismen greifen, werden andere zu kurz kommen. Nicht mit allem ist Geld zu machen.

Deswegen auch die Idee des DTSB, einen gemeinsamen Topf anzulegen, dessen Inhalt allen zugute kommt. Oder anders: die telegeneren Sportarten werden für die anderen das Geld mit erwirtschaften müssen.

Heißt das Abschied nehmen vom Gold?

Nicht unbedingt, obwohl es gegenwärtig so aussieht, als wäre die Bettdecke, wie man sie auch zieht, irgendwo immer zu kurz: Stets schaut das nackte Bein oder ein nackter Arm heraus. Aber es geht ja darum, nicht prinzipiell einem Schachspieler zu verbieten, zu einer Meisterschaft zu fahren, wenn er das finanzieren kann. Außerdem können jetzt Sportler bei Wettkämpfen im Ausland von Angehörigen begleitet werden, das ist auch ein Punkt, der motivierend wirken könnte. Das hat ja Frust gebracht. Die Eltern von Katarina Witt haben sie zum erstenmal 1988 in Budapest bei einer WM sehen können, als sie abgetreten ist.

Der einstige DDR-Trainer Regner, heute Betreuer von Michael Groß, glaubt nicht, daß die DDR ihre Position unter veränderten politischen Bedingungen wird behaupten können.

Der Sport wird in der DDR nicht mehr die Rolle spielen, die er hatte. Eine wichtige Triebfeder war die Konkurrenz zwischen West und Ost, der Drang nach internationaler Anerkennung.

Die 'Süddeutsche‘ hat den Sport bei Ihnen als „staatstragenden Urstoff“ bezeichnet.

Unbedingt. Wir haben das „Diplomaten im Trainingsanzug“ genannt. Unsere staatlichen Symbole tauchten erstmals bei Sportveranstaltungen auf. Aber es hat sich in den letzten Jahren vielen geändert, das Freizeitverhalten, die Einstellung der Eltern.

Könnte nicht alles, was Sie sich derzeit ausdenken, durch gesellschaftliche Realitäten weggefegt werden. Theorie im luftleeren Raum?

Selbstverständlich. Jetzt sind fast alle Mitglieder der Sportführung Mitglieder der SED, das ist das Erbe von 40 Jahren Politik. Aber wenn man sich das Positionspapier des Neuen Forums anschaut, das ist ja vernünftig.

Das Neue Forum stellt den Hochleistungssport in Frage.

Nicht ganz. Abgelehnt wird der Sport als Prestigeobjekt einer Regierung.

Der öffentliche Umgang mit Geld will ja gelernt sein. Die Bekanntgabe der Siegesprämien hat in ihren Medien zu merkwürdigen Diskussionen geführt.

Das hängt mit der Frage nach Privilegien zusammen, die jetzt allgemein gestellt wird. Man sieht ja konkret, wer welches Auto fährt. Die Medien hatten ja nicht die Offenheit von heute, da gab es viele Unklarheiten. Mit den daraus folgenden Emotionen haben wir heute zu kämpfen. Es wird leichter werden, wenn es bestimmte Tabus nicht mehr gibt.

Tabuthemen soll es nicht mehr geben. Wer hat die denn bislang bestimmt?

Da gab es keine Richtlinien. Sicherlich ist auch zu selten versucht worden, solche Themen anzupacken. Die Zahl der nicht geschriebenen Artikel ist sicher größer als die abgelehnten.

Das braucht nicht wundern. Wer aneckt fällt auf, und wer wollte nicht gerne Reisekader werden? Da wird der Opportunismus doch gezüchtet.

Das kann sein, aber es gab ja auch solche, die sich Beulen geholt haben. Etwas anderes: Es wird sich ja zeigen, ob wir zukünftig als Person oder als Zeitung eine Existenz haben. Wenn die Menschen nicht glauben, wir gehören in diese Zeit, wird die Geschichte genauso über uns hinweg gehen wie bei anderen.

Derzeit ist ihre Auflage ja per Quote festgelegt, andere dürfen nur 50.000 Exemplare drucken.

Das wird über den Markt geregelt werden. Die Medienlandschaft wird sich ändern. Neue Medien werden entstehen, Einflüsse in den Medien können wechseln.

Die Zeitung wird Ware.

Ganz klar, falls die Subventionen wegfallen. Ich hoffe, daß wir die Möglichkeiten der Inserate nutzen, einschließlich westlicher Werbung. Also Selbstfinanzierung und auch Gewinn.

Unser Blatt wird nicht gerade heftig von großen Firmen umworben.

Ich mache mir da keine falschen Hoffnungen. Momentan sind wir interessant, da stapeln sich Anträge, sehr lukrative, es ist unglaublich. Man entdeckt die DDR als Markt.

Gesamtdeutsche Perspektiven: Es gibt einen Vorschlag, die DDR-Eishockeyvereine sollten in der Bundesliga mitspielen.

Das würde ich nicht ausschließen, wünschen tu ich mir das nicht. Es soll auf der Ebene von freundschaftlichen Vergleichen bleiben.

Überlegungen in der DDR gehen dahin, nicht nur Trikotwerbung zu verkaufen, sondern Veranstaltungen, zum Beispiel den Fußballpokal. Der heißt derzeit nach der Gewerkschaft FDGB-Pokal. Künftig Daimler-Cup?

Das ist mir eine schreckliche Vorstellung und erinnert mich an Theo Waigels Wunsch, schleichend eine Wiedervereinigung herbeizuführen. Das wäre Ausverkauf.

Lenin hat im Dekret über den Frieden gesagt, die Regierung solle stets unter der Kontrolle der öffentlichen Meinung stehen. Wird die DDR-Presse endlich leninistisch?

Das soll so sein, das war eine Verletzung des Leninismus.

Sie selber schreiben vom „schneidenden Wind“, der Ihnen entgegenschlägt. Das geht allen so, die die alte Politik'auch im Sport, an führender Position mitgetragen haben.

Für den, der sich weit aus dem Fenster hängt, ist die Gefahr des Absturzes besonders groß. Es ist nun mal ein Tatsache, daß nicht wir die Revolution machen, sondern die Revolution macht das mit uns. Da sind Ungerechtigkeiten eingeschlossen.

Können sie das Mißtrauen nicht verstehen, daß jemand sagt, an solche Positionen konnten nur Überzeugte oder Opportunisten kommen?

In gewisser Weise verstehe ich das schon. Aber es gibt auch viele Menschen, die immer ihre ganz Kraft eingesetzt haben und in keiner Weise opportunistisch waren oder sich gar bereicherten.

...und beschreiben selbst den stalinistischen Geist, den sie heute noch im DTSB antreffen.

Auch diese Leute haben sich ehrlich bemüht, und nicht für materielle Priviegien. Dem Vorwurf, Wendehals zu sein, muß man sich stellen.

Sind Sie keiner?

All das, was wir geschrieben haben, auch unsere Kritikfähigkeit, ist ja nachzulesen, da haben wir es leichter.

Vor einigen Tagen haben Sie als erster DDR-Journalist einen Artikel in der 'FAZ‘ veröffentlicht, dem Blatt von Kapital und Regierung. Muß mich das wundern?

Kuczynski hat gesagt, es sei das klügste unter den reaktionären Blättern, und es ist interessant, was die Großbourgeoise dort ausbreitet. Außerdem ist es besser, die Leute dort erfahren aus erster Hand etwas über den DDR -Sport.

Es hätte also nicht die 'Rundschau‘ oder 'Bild‘ sein können?

'Bild‘ hätte es nicht sein können, das widerspäche meiner Auffassung von journalistischer Hygiene.

Interview: Herr Thömmes