Wohin geht die Macht?

Wird das Vakuum in der DDR die politischen Kräfte zersplittern?  ■ K O M M E N T A R E

Der 3.Dezember, die Selbstenthauptung der SED-Spitze, war der tatsächliche Umsturz in dem kurzen revolutionären Prozeß der DDR. Die Wende, die Machterhaltung, ist beendet. Die Revolte der SED-Basis hat nicht nur die Macht der korrupten Führung beseitigt, sie hat auch das Machtmonopol der Partei vernichtet. Diese Basis, die die Säuberung der SED beansprucht, ist schon eine neue Partei, aber zugleich nur noch eine politische Kraft unter anderen Kräften. Insofern sind jetzt erst, noch rechtzeitig vor dem 7.Dezember, die Voraussetzungen für den „runden Tisch“ gegeben - nämlich die Gleichberechtigung aller Teilnehmer. Aber die Hoffnung, jetzt beginne die „konstruktive Phase“ der DDR-Revolution, kann noch grausam enttäuscht werden. Sicher ist nur: Jetzt beginnt die Phase der Entscheidung

Kann es in der DDR einen vergleichsweise linearen Prozeß der Demokratisierung geben wie in Polen oder in der CSSR? Einen Prozeß der Korrosion staatlicher Macht, des Erstarkens der Opposition, die über den „runden Tisch“ an die Macht gelangt? Die Demokratie des „runden Tisches“ war in den anderen osteuropäischen Ländern immer von einem nationalen Konsens getragen und kontrolliert. Bei der Demokratisierung ging es da immer um eine zukünftige Gesellschaft und um das gemeinsame nationale Interesse. So ist die Lage in der DDR nicht. Da ist vielmehr die Frage der Demokratisierung belastet: Sie muß für die Massen überhaupt erst ein gemeinsames nationales Interesse konstituieren. Der „runde Tisch“ steht jetzt schon unter dem Druck der Alternative „DDR-Demokratie oder Wiedervereinigung“. Nach dem 3.Dezember stellt sich ungleich schärfer die Frage: Wohin geht die Macht. Die Regierung Modrow ist nunmehr faktisch von der Partei gelöst. Hat sie nun mehr Macht, oder verschärft sich die Frage ihrer Legitimation? Wird an den am „runden Tisch“ versammelten Kräften nicht die „Straße“ vorbeigehen? Kann die Demokratisierung in Parteien und Staat die Radikalisierung der Massen binden, die anstehende Rache an den Unterdrückern mäßigen? Ist der noch intakte Unterdrückungsapparat, der ja noch alle Waffen und Dossiers besitzt, verteidigungsfähig? Beunruhigende Informationen sind nicht zu übersehen. Steht nicht auch die „Macht der Straße“ vor der Zersplitterung, und ist die Opposition nicht schon auf dem Weg in die Isolierung?

Der Prozeß der Demokratisierung jedenfalls wird nicht mehr die einheitliche Massenströmung sein, wie es die bewegende Menschenkette durch die Republik suggeriert. Das offensichtliche Machtvakuum, das Patt der alten Mächte wird alle politischen Kräfte heransaugen und sie zersplittern. Womöglich wird der Zerfall des Staates seine Demokratisierung überholen. Womöglich wird die noch konturlose „Wiedervereinigungspartei“ sturmartig wachsen, weil keinerlei verbindliche Praxis einer neuen „DDR -Demokratie“ sie mehr bremsen kann.

Klaus Hartung