Ambulante Hilfe am Ende

■ Pflegenotstand für Behinderte / Schon 70 Bedürftige abgewiesen / Angst vor Heimpflege

Die „Individuelle Schwerstbe hinderten-Betreuung“ (ISB) bietet seit 1982 ambulante Betreuungsdienste an, die Behinderten ein Leben unabhängig von Heimen und Elternhaus ermöglichen sollen. Die Pflegedienste wurden bisher hauptsächlich von Zivis geleistet. Jetzt haben die Wohlfahrtsverbände als Träger der ISB den Pflegenotstand ausgerufen: „Der ISB ist am Ende!“

„Bremen ruht sich darauf aus, daß die ISB über Zivildienstleistende abgewickelt wird“, beklagte Andreas Rheinländer vom Sozialen Friedensdienst (SFB) die Notstandssituation. Mangelnde Fachkräfte und fehlender Nachwuchs gefährden die Integration Schwerstbehinderter. Die Sozialbehörde, die per Gesetz zur Finanzierung der ambulanten Dienste verpflichtet ist, profitiert von

den Zivis vor allem durch die Finanzierung: Zwischen 640 und 850 Mark kostet die „Billigvariante“ Zivildienstleistender pro Monat und verrichtet dafür 35 Stunden in der Woche Pflegearbeit. Eine Haushaltspflege mit 20 Mark Stundenlohn dagegen kostet 2.800 Mark (hochgerechnet auf die Arbeitszeit).

Die Versorgung Behinderter durch Zivildienstleistende stößt

in vielen Fällen auf gravierende Probleme: Die Männer, meist um die 20 Jahre alt, sind den pflegerischen Anforderungen psychisch oder qualitativ nicht gewachsen. „Kein Zivi ist in der Lage, für ältere oder verwirrte Menschen den Tagesablauf zu koordinieren“, weiß Rainer Bredenkamp vom Paritätischen Wohlfahrtsverband über die qualitativen Pflegeprobleme. Auch sei es für behinderte Frauen unzumutbar, sich von Männern waschen zu lassen. Der DPWV betreut zur Zeit mit 55 Zivildienstleistenden 35 Behinderte; SFD und AWO haben je 20 Zivis für je 14 Bedürftige. Wartelisten mußten die ISB -Träger einrichten, mit denen die Behinderten auf ein menschenwürdiges Dasein auf den St. Nimmerleinstag vertröstet werden. Die Alternative, die keine ist, heißt nämlich „Heim“ für die Abgewiesenen. „Wir wissen überhaupt nicht mehr, was mit den Leuten passieren soll, die wir nicht versorgen können.“ Melanie Dohle betreut Multiple-Sklerose -Kranke. „Der Streß für die Betroffenen, die Hoffnung und die Enttäuschung schlagen unmittelbar auf das Krankheitsbild“, berichtet sie aus dem Pflegealltag. Die Angst vor dem Abschub ins Heim sitzt allen im Nacken.

Die Trägerverbände reagierten mit Schreiben an die Sozialbehörde, um auf die katastrophale Unterversorgung Behinderter aufmerksam zu machen. Doch das entpuppte sich als Boxhieb in die Luft. Dank NOSD (Neuordnung der Sozialen Dienste) fühlt sich in der Behörde offenbar niemand mehr zuständig für die Pflegeversorgung, die neue Planstelle für „Soziale Rehabilitation“ ist noch nicht besetzt.

Neben den Forderungen nach festen Stellen vor allem für Pflegerinnen gibt es auch einen Selbsthilfeansatz, der die Pflegenot lindern soll. Thomas Streit von der Initiative „Selbstbestimmt leben“ arbeitet an einem Projekt „Assistenzgenossenschaft“. Hier sollen Pflegekapazitäten und -angebote koordiniert und arbeitsrechtlich strukturiert werden. Die Gründung der Genossenschaft ist für nächstes Jahr geplant. Was hier als Ausweg durch Selbsthilfe aufgezeigt ist, kann und soll die Versäumnisse in der Behörde aber nicht auffangen. Markus Daschne