piwik no script img

„Bin so'n kleiner König, gib mir nicht zu wenig“

■ Nikolauslaufen anno '89 / „Sprüche flachen immer mehr ab“ / „Kinder wissen nicht mehr, wer Nikolaus war“

Felix und Kalle hatten gestern nachmittag zu tun. Ab halb vier Uhr sind sie die Geschäfte im Fedelhören abgegangen, dann den Ostertorsteinweg in beiden Richtungen, bis sechs Uhr wollten sie noch das Steintor schaffen. Ihr Sprüchlein vor den Ladentheken läßt nichts zu wünschen übrig: „Ich bin ein kleiner Kater. Habe keinen Vater. - Habe keine Mutter. Bitte gib mir Futter.„ Die Ausbeute zur Halbzeit in ihren Plastiktüten: Jede Menge Bonchen, Bierdeckel, ein Stundenplan mit Heft, Wundertüten, Mandarinen.

Kalle hat extra zum „Nikolauslaufen“ 'ne andere Kappe aufgesetzt, eine schwarze, kunstlederne mit Kette.

Das Repertoire vieler Mädchen ist breiter: funkelnde Sterntaler singen ein Lied von „Schneeflöckchen, Weißröckchen„, vier holde Königskinder haben von ihrer Musiklerherin gelernt: „Jungfrau voller Gnaden, schenkte uns den Knaben...„. Manche Läden haben eigens Nikoläuse oder Schüler angeheuert, die die Bonchen vor der Tür verteilen. Die Kinder stehen

Schlange: Bärinnen, Seeräuber, Könige mit goldzackigen Kronen auf dem Kopf. Zwei sind völlig begeistert von ihren geschenkten „Batmans“ aus Gummi: „Der kostet sonst bei Comet 8 Mark.“ Sie machen sich allerdings Gedanken, ob es den Batman und seine Waffen „in echt“ gibt oder nicht.

Die Fleischersfrau am Dobben gibt den Kindern „Wienerle“, das macht sie schon seit vierzehn Jahren so, solange das Geschäft besteht. Sie beobachtet die Entwicklung mit Sorge: „Noch vor drei Jahren war es so, daß Ältere mit

der Flöte kamen und richtige Adventsgedichte aufgesagt haben. Aber die Sprüche flachen immer mehr ab. Die wissen nicht mehr, wer Nikolaus war. Sind angemalt wie Clowns. Ich habe deshalb zur Bedingung gemacht, daß sie was aufsagen, was mit der Weihnachtszeit zu tun hat.“ Sie selbst ist als Kind Anfang der fünziger Jahre auf dem platten Land Nikolaus -gelaufen: „Die Apfelsine haben wir geschont von Weihnachten bis Ostern.“

Leer gehen die Kinder ausgerechnet beim größten aller Kon

sumtempel aus: Bei Karstadt in der Obernstraße. Hier hat niemand an den Nikolaus gedacht. Leer gehen auch libanesische Flüchtlingskinder in einem neuen Schmuckladen aus. Die deutschen Verkäuferinnen bestehen darauf, daß die arabischen Kinder ein Nikolaus-Lied singen. Dafür hatten diese Kinder zuvor einer Bescherung der ganz anderen Art erlebt. Eine tatkräftige Weihnachtsfrau hatte sie mit Unterstützung des Ortsamtes „Mitte/Östliche Vorstadt“ mit Bergen von Spielzeug beschert.

B.D.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen