Mordfall Schmücker - Der Prozeß beginnt

Seltsame Verwicklungen des Kronzeugen Jürgen Bodeux in einen Kölner Raubmord / V-Mann Weingraber alias „Wien“ wird bestens ausgestattet aus dem Verkehr gezogen / Die Staatsanwaltschaft sitzt praktisch mitten in der Kanzlei des Anwalts Heinisch / Am 6.Februar 1976 beginnt der bislang längste Prozeß in der BRD  ■  Von Jerry Cotton

Der Staatsanwalt kennt vor allem aber die Protokolle des Verfassungsschutzes über die Observation von Schmücker und den Wolfsburgern, und er hat die Berichte des „guten Genossen“ Volker Weingraber auf dem Tisch liegen - wenn auch nicht offen. Ein weiteres Medium muß her: Jürgen Bodeux. Mit dem geständigen Bodeux kann auch all das in den Prozeß transportiert werden, was der Staatsanwalt längst unter dem Anklagepult zu liegen hat. Und das, ohne die Quelle zu gefährden: den „Genossen“ vom VS.

Der Porzer Raubmord

Am 18.Dezember 1973 beenden 50 Schrotkugeln, abgefeuert aus einem abgesägten Schrotgewehr, im Kölner Stadtteil Porz die Autofahrt des Geldboten Wiegand. Der Geldbote ist sofort tot, die Täter entkommen unerkannt mit 19.000 Mark. Der Kriminal-Oberkommissar der Kölner Mordkommission, Kondziela, übernimmt die Ermittlungen. Sehr schnell hat er über 70 Spuren in Akten angelegt. Spur 74 weist auf eine mutmaßliche Tatbeteiligung des Lehrlings Jürgen Bodeux hin. Auch die Witwe des Opfers hat einen Verdacht: Der Schwiegersohn des Firmenbesitzers, in dessen Auftrag ihr Mann das Geld transportiert hat, habe den Raubmord begangen, und zwar gemeinsam mit seinem Freund Jürgen Bodeux. Kommissar Kondziela ermittelt in Richtung Bodeux und erlebt fortan Außergewöhnliches. Weil Bodeux ihm als Anhänger der Anarcho -Szene bekannt ist, fragt er in Köln beim Bundesamt für Verfassungsschutz an, ob die nicht über ihre Kontaktleute in der Szene etwas über den Porzer Raubmord in Erfahrung bringen könnten. Am 25.April legt der Kommissar einen Vermerk an. Nach einem Gespräch mit Herrn Koppermann vom Kölner Bundesamt habe dieser ihm erklärt, Kontaktmann in der Porzer Szene sei ein gewisser Jürgen Bodeux.

Aber der ist vorerst nicht aufzufinden. Nach Bodeuxs Verhaftung im August 1974 nimmt der wackere Kommissar erneut die inzwischen 84 Seiten starke Akte Bodeux zur Hand. Jetzt will er von Verfassungsschützer Koppermann eine Besuchserlaubnis für Bodeux, um diesem einige Fragen stellen zu können. Sinngemäß, so Kondziela in einer späteren Aussage vor Gericht, habe Koppermann jedoch geantwortet: „Das lassen Sie bitte unsere Sache sein.“ Im dritten Verfahrensdurchgang wollen sich später aber weder Koppermann noch Kondziela an ein solches Gespräch erinnern.

Kein Interesse

am Fingerabdruck

Doch mit der Spurenakte 74 geschieht auch weiter Seltsames. Zunächst fordert das Landeskriminalamt Düsseldorf die Spurenakte 74 an. Das LKA will überprüfen, ob Bodeux für den Raubmord und für einen Überfall auf den gleichen Geldboten der selben Firma im Sommer 1973 in Frage komme. Bei diesem Überfall, bei dem die Täter nicht geschossen, aber 32.000 Mark erbeutet haben, ist ein Fingerabdruck der Täter zurückgeblieben. Allerdings haben weder das LKA noch die Kölner Kripo jemals einen Vergleichsabdruck des verdächtigten Bodeux mit dem am Tatort zurückgelassenen Fingerabdruck gemacht. Nicht genug der Ungereimtheiten: Als die Anwälte im „Schmücker-Verfahren“ den Kronzeugen Bodeux im Hinblick auf die Porzer Geschichte weitergehend durchleuchten wollen, stellen sich ihnen nur noch Blockaden in den Weg. Zwar taucht genau die Hälfte der Spurenakte 74 auf, aber sonst nichts. Als die Anwälte dann im dritten Verfahren den Fingerabdruck vom Kölner Tatort mit denen Bodeux‘ vergleichen lassen wollen, stellt sich heraus, daß der in Köln sichergestellte Abdruck bereits 1981 vernichtet wurde. Das ist mehr als ungewöhnlich: Nach Vorschrift sind die Akten in einer Mordsache 30 Jahre aufzuheben. Erst nachdem die Rechtsanwälte gegen die Kölner Kripo ein Ermittlungsverfahren wegen Strafvereitelung im Amt in Gang gebracht haben, tauchen die Reste der Spurenakte Bodeux auf. Feststellen läßt sich anhand der Akten allerdings lediglich, daß die Spur Bodeux ab 1974 nicht weiter verfolgt worden ist.

Ob zwischen Bodeux und dem Staatsanwalt ein Übereinkommen in Sachen Porzer Raubmord stattgefunden hat, ist nie bewiesen worden und bleibt daher Spekulation. Gute Gründe dafür hätten allerdings beide gehabt.

Ende 1979, kurz nach dem Ende des zweiten Verfahrensdurchgangs, wird dem in der Schmücker-Affäre recherchierenden Fernseh-Journalisten Stephan Aust Brisantes zugespielt, nämlich mehrere Vermerke des BKA und des Hessischen Landeskriminalamtes, die darauf hinweisen, daß der Kronzeuge Bodeux bereits vor dem Schmückermord als Informant für das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz tätig gewesen ist. Nachdem Aust allerdings die Dokumente öffentlich gemacht hat, erklärt das BKA, die Dokumente seien gefälscht. Aust selbst über die Dokumente: „Entweder sind die Unterlagen falsch - dann muß es eine Abteilung Desinformation in einem der Ämter geben, mit der Zielsetzung, Journalisten durch gezielte Falschinformationen aufs Glatteis zu führen. Oder aber die Unterlagen sind echt. Was das bedeutet, liegt auf der Hand.“

Desinformation gehört zum Handwerk der Geheimen

Daß es „Desinformationsabteilungen bei den Ämtern“ gibt, ist gemeinhin bekannt - Desinformation gehört zum Handwerk der Geheimen. Zur Desinformation haben sie denn auch in dieser Sache allen Grund. Eine gezielt gelegte Fährte, die ins Nichts führt, dafür aber Verwirrung stiftet und von weit heißeren Spuren ablenken soll - dazu sind die „Ämter“ in der Lage. Und als besonders findig erweisen sie sich allemal, wenn es um die Deckung ihrer eigenen V-Leute geht.

Im Oktober 1974 sorgt der Staatsanwalt Przsytarski erst einmal dafür, daß der V-Mann „Wien“ bestens ausgerüstet in den Untergrund einsteigen kann. Er erhebt Anklage wegen Beihilfe zum Mord an Schmücker und läßt eigens einen Steckbrief drucken. „Gesuchter anarchistischer Gewalttäter. Vorsicht Schußwaffen!“ Das Konterfei zeigt den V-Mann Volker Weingraber, Deckname Wien. Der Verfassungsschutz hat Weingraber noch schnell entsprechend seines Auftrages mit einer Pistole der Marke Beretta, Kaliber 9 Millimeter mit der Nr. F 35 194 ausgestattet.

Und prompt geht „Wien“ daran, sein „Image“ fruchtbar einzubringen. Im Spätherbst 1974 versucht er, über einen Szene-Anwalt Kontakt zum Kern des 2.Juni aufzunehmen. Waffen und Autos könne der Genosse reichlich beschaffen, führt der radikale Anwaltsgenosse für Weingrabers Aufnahme beim 2.Juni ins Feld - doch dieser lehnt eine Kontaktaufnahme zum „gesuchten Genossen Weingraber“ kategorisch ab.

Eine neue Identität und

ein passables Auskommen

Weingraber, der aus dem Berliner Zuhältermilieu kommt, wird Ende 1973 für den Berliner Verfassungsschutz als Spitzel rekrutiert und in die Anarchoszene eingeschleust. Nach der Schmücker-Affäre und der mißlungenen Kontaktaufnahme zum 2.Juni wechselt er seine Identität und macht sich Anfang 1975 auf den Weg nach Frankfurt, wo er nach eigenem Bekunden in die RAF geschleust werden soll. Ob er dabei Erfolg hat, können nur die RAF und das Bundesamt für Verfassungsschutz aufklären.

Am 19.Juni 1979 jedenfalls gibt Weingraber seinen V-Mann -Führer Grünhagen in Berlin die zweite Waffe, seine „Dienstwaffe“ Marke Beretta, zurück. Weingraber wird nun aus dem Verkehr gezogen. Fortan läßt es sich Weingraber gutgehen. Knapp eine Million Mark investiert der Berliner Verfassungsschutz über die kommenden Jahre hinweg in die neue Identität und ein passables Auskommen seines Ex-V -Mannes. Auf diesem Polster ruht sich Weingraber seitdem in der sonnigen Toskana aus. Doch zurück in die Chronologie der Ereignisse.

Im Sommer 1975 bereitet sich ein halbes Dutzend stadtbekannter Linksanwälte auf den für Anfang 1976 terminierten Prozeß gegen die Wolfsburger vor. Ilse B. rät ihrem Anwalt Philipp Heinisch, sich doch als Stütze zur Prozeßvorbereitung ihren alten Genossen Christian Hain in die Kanzlei zu holen. Das tut der auch. Denn Hain ist nicht nur Jurastudent, sondern ganz besonders firm in Sachen Knastsolidarität.

Was Heinisch nicht ahnen kann: mit Christian Hain hatte er sich praktisch die Staatsanwaltschaft in die Kanzlei gesetzt. Seit wenigen Wochen weiß Heinisch, von Amts wegen bestätigt, daß Hain unter dem Decknamen „Flach“ spätestens seit Februar 1975 als V-Mann des Verfassungsschutz gearbeitet hat. Doch damit nicht genug. Weil der Verfassungsschutz argwöhnt, Heinisch mache gemeinsame Sache mit Terroristen, trifft man doppelte Vorsorge: zusätzlich zur Einschleusung Hains werden auch noch die Telefone des Anwalts angezapft. Mitgehört hat das Amt bei dem Rechtsanwalt dann mindestens fünf Jahre lang.

Mit Beginn seiner V-Mann-Tätigkeit Anfang 1975 wird Hain zu einem der aktivsten Mitarbeiter in der Roten Hilfe West -Berlin. Und wenn die Anwälte ihre Prozeßstrategie diskutieren, ist Hain dabei. Er wälzt Prozeßakten und organisiert zugleich die Soli-Gruppen, die sich anläßlich des bevorstehenden Prozesses gegen Ilse zu organisieren beginnen. „Hain war jahrelang im Zentrum der Roten Hilfe unterwegs und immer am aktivsten“, weiß eine alte Bekannte aus jener Zeit Jahre später über den „charmanten Christian“ zu berichten.

Das längste Strafverfahren der BRD beginnt

Am 6.Februar 1976 beginnt der Prozeß. Keiner der Beteiligten ahnt jedoch zu diesem Zeitpunkt, daß er zum längsten Strafverfahren der Bundesrepublik werden soll. Die Verteidigung ist gut vorbereitet - die Staatsanwaltschaft auch. Zwar hat es da etwas Unvorhergesehenes gegeben, der Belastungszeuge Tilgner stirbt im Sommer 1975 an einer Überdosis Alkohol in Verbindung mit Medikamenten. Dennoch sind die Karten der beiden Anklagevertreter, Jürgen Przsytarski und Wolfgang Müllenbrock von der Abteilung P II, äußerst gut gemischt. Öffentlich können sie den Kronzeugen Bodeux präsentieren - und im Hintergrund haben sie die V -Leute „Wien“ und „Flach“. Dazu diverse Observationsberichte des Verfassungsschutzes und abgehörte Telefongespräche, zum Beispiel die Protokolle von Gesprächen zwischen Weingraber und Ilse B.

Das aber bleibt alles bis zum Jahre 1986 im tiefsten verborgen. Weder die Verteidiger noch die jeweiligen Richter in den insgesamt drei Verfahrensdurchgängen über einen Zeitraum von immerhin zehn Jahren hinweg wissen etwas über das tatsächliche Ausmaß der Verwicklungen des Verfassungsschutzes in die Mordaffäre Schmücker.

„Unglaublich“, schimpft zehn Jahre später der dann neue SPD -Innensenator Pätzold über den „Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel“ gegen den Rechtsanwalt. Pätzold: „Die haben doch schon nach zwei Monaten gewußt, daß der Heinisch harmlos ist, und haben trotzdem weiter mitgehört“.

VM-Flach, also Hain, berichtet unterdessen aus der Moabiter Stephanstraße, Sitz der Roten Hilfe West-Berlin (RH), über Jahre hinweg brühwarm deren sämtliche Kontakte und Arbeitsaktiviäten seinem V-Mann-Führer Grünhagen. „Flach“ ist für seinen Dienstherren außerordentlich ergiebig und erledigt auch seine operativen Aufgaben zur steten Zufriedenheit des Amts. Mal läßt er zwei Unterstützer der Bewegung 2.Juni hochgehen, mal räumt die Polizei auf seinen Tip hin geräuschlos ein Waffendepot aus, ohne daß dabei Hain in Verdacht gerät. Für militante Aktionen hat Hain immer nur Zustimmung übrig, mitmachen will er allerdings selten. Auch die linken Anwälte vertrauen ihrem „Praktikanten“ Hain, und so hat er keine Probleme, in den Kanzleien auch mal an die Akten zu gehen. Die Verteidigungstrategie im Verfahren gegen seine alte Freundin Ilse, die inzwischen in der Haft einen Mann namens Schwipper geheiratet hat, kennt Hain durch und durch - und durch ihn auch der Verfassungsschutz und die anklagenden Staatsanwälte.

Erst Anfang 1980 werden die GenossInnen, die mit Christian zusammenarbeiten, dann doch mißtrauisch und konfrontieren ihn mit einer langen Vorwurfsliste. Hain übersteht auch das, wie später eine Genossin jener Tage sagt, mit „Charme und Dreistigkeit“. Zur Rehabilitierung schleppt Hain auch gleich zwei Kilo Plastiksprengstoff an und gibt anderen Genossen den Tip, wo sie noch mehr bekommen können, nämlich in Griechenland. Ab und zu hält er sich auch über längere Zeit in Italien auf und taucht dort in den Randbereich der Roten Brigaden unter. Immer hat Hain etwas zu erzählen, und immer läßt er sich etwas erzählen.

(Fortsetzung folgt)