Aus den Tagen geplatzt

■ Der holländische Autor war eine Woche unterwegs in beiden Berlin

Cees Nooteboom

BILD, schwarz, gelb, rot und grauenhaft, aber mit den besten Schlagzeilen, zählt es auf wie in einem Lied: Gestürzt, Verhaftet, Verstoßen, Gejagt, und zwischen diesen Wörtern die Fotos der abgesetzten Führung genauso groß wie die Lettern der Schlagzeilen. Und darüber, in den Farben der deutschen Fahne: DAS VOLK BEFREIT SICH. Es ist Montag morgen, grau und neblig, und diese Woche ist aus den Tagen geplatzt. Ich habe Kohl gesehen bei seinem Versuch, der Welt voraus zu sein, Krenz vor, während und nach seinem Sturz, Golo Mann in der Rolle von Clausewitz, zwei richtige Theaterstücke, eins hüben, eins drüben, die Gleichzeitigkeit von Fotos und Geschichte, zwei Autorinnen, ein Volk, das sich umarmt, und ein Volk, das murrt, ich muß mir selber Telegramme schicken, um da Ordnung reinzukriegen.

Sonntag, 26. November. Cafe Adler am Checkpoint Charlie. Auf der anderen Seite, die blinde Mauer mit den großen Lettern, die mal elektrisch waren: Neue Zeit. Das kann man wahrhaftig sagen. Ich bin unterwegs zu einer Versammlung in Ost-Berlin, aber die Schlange vor der Paßkontrolle ist so lang, daß mir klar wird, daß ich dort nie rechtzeitig eintreffen werde. Diese Stadt ist immer noch geteilt. Ich bleibe auf dieser Seite und gehe zum Martin-Gropius-Bau, um mir eine Ausstellung anzusehen. Regen fällt auf den vereisten Schnee, eiskalter Matsch. Mitteleuropa. Es ist eine Ausstellung über jüdische Sportvereine, nachdem Juden von „anderen“ Sportvereinen ausgeschlossen waren. Die Fotos haben das Stümperhafte von Sportfotos der dreißiger Jahre, und man kann ihnen fast ansehen, daß die Menschen später viel schneller laufen können. Bewegend werden sie durch das, was man über sie weiß. Ich lese die Namen, betrachte die Gesichter. Lili Sara Henoch, mehrfache Meisterin, mit ihrer Mutter nach Riga deportiert, spurlos verschwunden. Die Liste ihrer letzten Habseligkeiten, der goldene Adler, den sie einst auf der Brust tragen durfte. Alfred Flatow, Autor des Handbuchs für Weltturner, früherer Meister, nach 46 Jahren aus dem Turnverein hinausgeworfen. In seinem Abschiedsbrief an den Verein schreibt er: „Über meine eigenen Gedanken und Empfindungen bitte ich schweigen zu dürfen.“ Er wurde 1869 geboren, doch nach diesem Brief ist sein Leben nur noch von kurzer Dauer. 1941 Reichsfeind, 1942 deportiert ins Altersghetto in Theresienstadt, Ende desselben Jahres „Tod durch Auszehrung“. Edmund Neuendorf schreibt an seinen „lieben Turnbruder Naumann“ (sie sind beide Vorstandsmitglieder), daß er tapfer sein müsse bei diesen Austritten, es ginge nun in erster Linie um Deutschland. „Deutschland hat unter dem Judentum in den letzten Jahrzehnten so unendlich viel gelitten, die deutsche Kultur, das deutsche öffentliche Leben, die deutsche Sittlichkeit sind vom Judentum so stark verschandet worden, die deutsche Politik ist von ihnen so greulich mißhandelt worden, daß wir da unter allen Umständen einen ganz dicken Strich unter die Vergangenheit machen müssen. Was wir erlebt haben, darf niemals wiederkommen. Gut Heil, und Heil Hitler. „Ich sehe mir den forschen Turner in seinem altmodischen Sporttrikot an und sehe gleichzeitig das kleine Schild dahinter: „Die Aussicht aus den Fenstern gibt den Blick frei auf die Fundamente des Gestapo-Hauptquartiers mit den Resten der Folterkammern.“ Folgsam blicke ich hinaus, ein Feld, ein Hügel, ein paar schwarze, kahle Sträucher, Fußspuren im Schnee, nichts.

Unten im Museum ist eine andere Vergangenheit ausgestellt: die gegenwärtige. Dieser Widerspruch hat etwas Perverses, ich muß mir selber erklären, warum. Es geht um Fotos und Transparente von den Demonstrationen der vergangenen Wochen. Nach der großen Demonstration wurden die Demonstranten gebeten, ihre Plakate und Transparente im Museum für Geschichte (Ost) abzugeben, das sie nun für diese Westberliner Ausstellung ausgeliehen hat, wie richtige Bilder. Ich betrachte die Transparente, die hier nur ein bißchen dumm an der weißgetünchten Wand hängen, die Fotos der bekannten Bilder, dieselben Losungen, die in der Menge emporgehalten wurden, Vielleicht ist das auch schon postmodern: Geschichte machen und zugleich sehr gut wissen, daß man noch in der gleichen Woche im Museum landet, und sich das dann wieder anschauen, denn die Kommentare in dem bereitliegenden Buch sind hauptsächlich von Ostberlinern geschrieben: „Wir wollen unsere Demokratie und nicht euren Mist!“ „Die Spießer in der DDR sind erst dann aus ihren Konsumhöhlen gekrochen, als sie nichts mehr zu fürchten hatten.“ „Alles, bloß keine (Wieder-)Vereinigung.“ „Angst vor der Umarmung durch die Brüdern und Schwestern.“ Diese Geschichte ist also noch lange nicht zu Ende, trotz der zehn Punkte von Kohl. Auf dem Rückweg gehe ich über den Polenmarkt. Hunderte von frierenden Menschen im verderblichen kalten Matsch, zu ihren Füßen die armseligen Waren, auf die Türken und arme Leute ansprechen. Eiskalter Regen, Feilschen und Bieten, die getretene Schattenseite zweier Welten.

Montag abend. In Wolff's Bücherei liest Hilde Domin. Gedichte, Skizzen aus ihrem Leben. Ein langes Leben, sie ist fast achtzig, mit der gnadenlosen Unerschütterlichkeit von Menschen, die schon alles mitgemacht haben. Klein, zerbrechlich, ohne Brille, eine Stimme wie Glas. 1933 geflohen, promoviert in Florenz über einen Vorläufer Machiavellis, ein Rosenkranz von Stationen des Exils, Italien, wieder vertrieben, England, Santo Domingo, von Gedichten leben, Armut, und immer andere Unterkünfte, nicht unterzukriegen. In dem Buch, das sie für mich signiert, Aber die Hoffnung, unterstreicht sie das Wort dreimal. Sie liest aus ihren Gedichten.

Taube,

wenn mein Haus verbrennt

wenn ich wieder verstoßen werde

wenn ich alles verliere

dich nehme ich mit,

Taube aus wurmstichigem Holz,

wegen des zarten Schwungs

deines einzigen

ungebrochenen

Flügels.

Dienstag. Leonce und Lena von Büchner, in West-Berlin. Eine dieser ärgerlichen Aufführungen, wo ein moderner, untalentierter Regisseur seine Finger mal wieder nicht von einem Stück lassen konnte. Es paßt in diese Woche wegen des verborgenen Untergrunds von Aufstand und Zweifel an den gesellschaftlichen Verhältnissen, aber dem Regisseur ist es geglückt, eine Mistschicht aus Schnickschnack draufzuschmieren mit unsinnigem Bewegungstheater und einer schleimigen Trompete. Aber es wird doch noch richtiges Theater, denn die Hälfte des Publikums verläßt grölend und schreiend den Saal. Ich bleibe aus Solidarität mit den Schauspielern sitzen und wegen dieses wunderbaren letzten Satzes: “...und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!“

Mittwoch. Die Fotografien im Museum beschäftigen mich immer noch. Irgendwas tun und dabei gleichzeitig in den Spiegel gucken, so ungefähr. Formen von Meta-Geschichte. Das narzistische Element darin nimmt die Hitze vom Feuer weg. Andererseits, man wird jeden Tag von einem Übermaß sich bewegender Bilder erdrückt, und wenn man die anhält, sind es auch Illustrationen aus einem Geschichtsbuch. Aber vielleicht ist es genau das, man darf sie noch nicht anhalten. Schau-Sucht, es nimmt kein Ende. Die schaurigen Jagdschlösser der Parteibonzen, Nachahmerei im schlechtesten Geschmack eines feudalen Adels, doch dann glanzlos, fette Fauteuils unter Reihen von Geweihen, man würde sie gern sitzen sehen mit einem Krug Bier in der Hand, die Marquise des ausgeschlachteten Ostens im Dekor des Klassenfeinds, die zurückgehaltene Eifersucht des Kleinbürgers. Inzwischen kämpft Krenz um sein Leben, der zu große Kopf hängt allabendlich in der Ikone des DDR-Fernsehens, in Kaufhäusern, an Arbeitsplätzen, an Straßenecken, beschwörend, argumentierend. Aber er bekommt es zu hören von den Arbeitern und Hausfrauen, sie brauchen nicht in den Westen, sie bleiben, wo sie sind, aber sie haben genug von der Sauerei, die er und Konsorten daraus gemacht haben. Auf dem Bildschirm des Westfernsehens Golo Mann, der irreparabel wie sein Vater aussieht, Reinkarnation, eine Ladung durchgeschüttelter und erneut angebrachter Genen, herrlich. Er spricht wie ein Clausewitz über das Glacis, das Ostdeutschland sei und das Rußland nie und nimmer werde missen wollen, und hält nebenbei eine Vorlesung über die Abnutzung von Wörtern, der Irrfahrt durch mögliche Bedeutungen, die Wörter wie Kommunismus, Sozialismus, Demokratie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gemacht haben. Und darumherum nisten sich in meinem Gehirn andere Bilder ein, die des fallenden Ostens, Schiwkow, der, verwundert wie ein zurückgebliebenes Kind, den Mund halb geöffnet, zuschaut, wie sein Denkmal schmilzt, Ceausescu, neurotisch argumentierend, ein Dorftrottel in einem leeren Palast. Alles ist nun eine Frage der Zeit, im Händedruck von Gorbatschow und Bush wurde auch an Castros Biographie geschrieben. Und, fast schon wieder unter den Tisch gefallen durch die ganzen anderen Ereignisse, Dubcek auf dem Prager Balkon, während Husaks Schatten sich fertigmacht, Dantes Hölle zu suchen, die etwas schiefhängende Christus-Ikone in einem Raum des Vatikans, wo zwei Männer ohne Dolmetscher ein Gespräch in Russisch führen. Extra omnes!

Donnerstag. Eine junge DDR-Autorin, Kerstin Hensel, liest Gedichte und Prosa im Westberliner Buchhändlerkeller. Klein, streng, schlicht gekleidet, Brecht-Frisur, 1961 geboren. Hallimasch ist der Titel ihres Erzählungsbandes, und das ist der Name eines Pilzes, ein Parasit der Nadelbäume, aber eßbar, ein Mittel zu überleben in schweren Zeiten. Ihre Version von Hänsel und Gretel endet mit der bitteren Wendung: “...NACH HAUS, sprach der Junge, und da sah ihn das Mädchen zum erstenmal an, zum erstenmal nach Jahren, und sagte, WIE FETT DU GEWORDEN BIST, HANS, und da sah es auch Hans und sprach, WIE DUMM DU GEWORDEN BIST, MARGARETE, und da gingen sie und wußten nicht, wohin.“ Tags darauf versuche ich, ihre Gedichte in Ost-Berlin zu bekommen, aber es gibt sie nicht mehr. „Vergriffen.“

Freitag. Diesmal fahre ich mit dem Auto, ich will weiter in die Stadt hinein. Genau an der Grenze fängt der Motor meines uralten Amerikaners zu kochen an. Ist das normal? fragt der Grenzer, und ich gebe es zu, es ist nicht normal. Gar nichts ist mehr normal, wollte ich noch sagen, aber er hilft mir, eine Flasche Wasser hineinzuschütten, und ich kann weiter. Ich fahre über Karl Marx und Karl Liebknecht, die zerronnenen Träume, und komme dann in trostlosere Viertel. Der Smog vermischt sich mit dem Nebel, die Luft schmeckt nach Trabant und Braunkohle, hier sieht es immer noch ein bißchen aus wie nach dem Krieg. Die Sonne siebt die Greuel wie ein alter Restaurator, graue hohe Häuserblöcke, Bahngelände, ich entferne mich weiter aus der Innenstadt, fahre an der Mauer entlang, hinter der die Spree liegen muß, die Mauer, die ich so oft am anderen Ufer liegen sehe, auf der anderen Seite des Wassers. Hier wohnen sie also, denke ich ohne viel zu denken, doch es stimmt, hier wohnen sie, die Leute von den Demonstrationen, die Leute, die abends das gleiche Fernsehen anschalten wie ich, sie wohnen in schmucklosen Stapelplätzen, breiten Alleen, wodurch sie klein werden, wenn sie sie überqueren. Auf einmal bin ich am Tierpark, ich sehe die Tore und die hohen Bäume dahinter, in denen Trauben von Raben, diese widerspenstigen Singvögel, mich hineinschreien. Zuviele Menschen diese Woche, jetzt will ich Tiere. Der Eintritt kostet eine Mark, ich bin fast der einzige Besucher, gehe vorsichtig auf den vereisten Wegen, lausche den kurzen, schneidenden Rabenliedern. Wühlmäuse, vietnamesische Hängebauchschweine mit griesgrämigen Gesichtern, Schlangen, schwarze Panther, die Ruhe der sich ewig wiederholenden Formen ohne ausgedachte Bosheit, ich spüre, wie die aufdringliche Geschichte von mir abgleitet, grüße nach links und rechts, winke den Flamingos in ihren beschlagenen Wintergärten, den sibirischen Bären, die so tun, als wäre es Sommer. Das Licht fällt langsam und streift in grauen Farben den Schnee, die Pinguine beraten sich über die Geschehnisse der Menschen, im Raubtierhaus sind die Löwen im Aufstand, sie brüllen und krallen, das ganze Gebäude erzittert davon, und, als bestünde eine Übereinstimmung, sehe ich eine halbe Stunde später die Wachablösung am Denkmal des Unbekannten Soldaten, drei menschliche Tiere, die sich wie Maschinen benehmen. Es ist dann bereits dunkel, es geschieht im Licht der hohen Laternen, sie können alles, was gewöhnliche Tiere nicht können, tragen Helme und feldgraue lange Mäntel, sie knarsen mit ihren Stiefeln, die sie hoch emporschleudern in ihrem maschinellen Ballett, drehen sich um die eigene Achse, erheben das Gewehr mit dem ins Licht gerichteten Bajonett, tun so, als wären sie nicht drei, sondern nur eine Person, ein dreimenschlicher Automaton, der zischend, mit einem kurzen, furchtbaren Atemzug, hinter einer geheimen Tür verschwindet. Ein Stückchen weiter versammeln sich Demonstranten vor der Volkskammer, morgen und übermorgen muß die Partei über ihr Schicksal debattieren. Dann wird die Armee nicht länger die Armee der Partei sein.

Theaterstück im Maxim Gorki Theater: Volker Brauns Übergangsgesellschaft, eine Paraphrase auf Tschechows Drei Schwestern. Eine verdreckte Terrasse, ein Haus mit altem Gerümpel, gestrandete Existenzen, verbrannte Illusionen, Angst und Frustrationen, und wieder das Verlangen nach Moskau, denn das Rad der Geschichte hat wieder mal eine Drehung gemacht, die Hoffnung kommt nun tatsächlich aus Moskau, keiner im Saal, der sich dessen nicht bewußt ist. Ein Stück voll innerer Widersprüche, psychotischer Szenen, Anspielungen, die ich lang nicht alle verstehe. Das Publikum ist gebannt, lacht über alles, was die Situation dieser Tage trifft. Das Stück endet mit einem Brand in dem alten Haus und dem Tod des früheren Spanienkämpfers, der einzige, für den das Leben klar und sinnvoll war, weil er gegen den Faschismus gekämpft hat. Der Rest ist Verwirrung für die Lebenden. Unten im Foyer schon wieder diese Fotos, angehaltene Bewegung, als wäre die Zeit des Nachdenkens schon angebrochen, der Spiegel, in dem man sich stehenbleibend sieht. Doch das muß Betrug sein, da bleibt noch lange nichts stehen. Auf einem großen Plakat im selben Foyer fragt sich der Autor des Stücks, ob sich der Osten vom Westen kolonisieren lassen müsse. „Noch ist ja gar nichts bewiesen. Wo leben wir denn“ - und „Wird nach uns kommen nichts Nennenswertes?“ „Das Wiener Schnitzel ist zu wenig für unsere Appetite, ein kleiner ungarischer Raubkapitalismus produziert womöglich eine Eindrittelgesellschat, und die neue soziale Not wird die Volksrepublik ganz in den Westen driften lassen oder in eine neue sozialistische Unruhe; und die Frage ist, ob es etwas Moderneres gibt als den Zirkus der Parteien, eine Demokratie der Basis, eine Demokratie, die Lösungen für alle will.“ Mit einem einfachen Anhängsel der Bundesrepublik braucht vorläufig niemand zu rechnen.

Sonntag. Halbacht Uhr abends. Aktuelle Kamera, Ost, die Sendung, die man nicht mehr missen kann. Mielke, Mittag, Müller verhaftet, Schalck-Golodkowsky geflohen, Krenz abgesetzt, die Partei enthauptet, Prag '68 bedauert, Ende. Ich sehe, wie ein Politiker sein eigenes Schicksal erlebt. Dieser Ausdruck gehört in veraltete Bücher, doch hier stimmt er: Das Volk murrt. Krenz steht auf den Stufen, ein paar Meter vom Mikrophon, bleich im Neonlicht. Einer nach dem anderen kommt nach vorne, argumentiert, schimpft, und das sind die Mitglieder seiner eigenen Partei, das, was man in ihrer eigenen Lyrik die Basis nennt. Das Urteil wird über ihn gefällt, und es ist gnadenlos, so hat man es noch nie gesehen. Er möchte noch einen Versuch unternehmen, ergreift das Mikrophon, aber sie schreien und grölen, ein Platz voll. Er kann gut schreien, und er schreit heraus, was er noch tun will, was er noch nie getan hat, aber sie brüllen ihn weg wie einen infizierten Mann. Er dreht sich um und verschwindet hinter den Körpern. Später zeigen sie den Mann noch einmal, vor einem Monat: wie er Mielke, den früheren Chef des Staatssicherheitsdienstes, der jetzt verhaftet ist, dekoriert, ein mickriger Typ in einer cremefarbenen Uniform, eine Brust wie eine Pinnwand mit vielen bunten Orden, wo Krenz noch einen dazu heftet, und danach, noch tödlicher, derselbe Krenz nach dem Studentenaufstand in Peking. Dann ist er weg vom Fenster, verschwunden, kalter Kaffee, erstickt unter einer Menschenkette seiner Bürger, die durch das ganze Land reicht, durch zwei Männer auf einem Schiff, durch einen dieser Männer in Brüssel zusammen mit Kohl, der Krenz in zwei Wochen hätte treffen sollen, um ihm den Schein des Ansehens zu geben, der ihm genommen wurde. Egon Bahr zählt es am Ende des Abends zusammen: „Diese Partei hat sich selber enthauptet, dies ist die dritte Phase einer Revolution. Und sie wissen, Köpfe wachsen nicht mehr an.“

Stundenlang bin ich am Bildschirm gesessen, ich möchte noch ein bißchen rausgehen. Es ist Nacht, kalt. Hinter den Fenstern der Kneipen sitzen noch vereinzelte Schatten, sonst ist es ruhig. Und ich denke mir aus, daß meine Stadt ein eingeschlossener Stadtteil ist, mitten in einem Land, das jetzt wie ein großes Schiff auf stürmischer See treibt, dessen Wellen es zur gleichen Zeit selber aufpeitscht. Das ist ein idiotisches Bild, aber ich kann es nicht anders sagen. Ich weiß, daß es stürmt, und es ist ganz ruhig. Aus dem Niederländischen

von Rosemarie Stil

*Hilde Domin, Gesammelte Gedichte. S.Fischer, Frankfurt 1987

Kerstin Hensel, Hallimasch. Luchterhand, Frankfurt 1989