Kriechströme ins Wohnzimmer

■ Geplante Hochhaussiedlung im Moabiter Werder wurde von der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Stadtumbau heftig kritisiert / Den Anwohnern drohen Krankheiten

Unsichtbare Kriechströme dringen über Stahlträger ins Haus, die elektromagnetischen Schwingungen verstärken sich von Stockwerk zu Stockwerk. Kopfschmerzen, Blutbildveränderungen, Schlafstörungen, Kreislaufschäden all dies könnte den künftigen Bewohnern der geplanten Hochhäuser auf dem Moabiter Werder passieren.

Ein Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Stadtumbau im Auftrag der Umweltverwaltung stellt fest, daß die S-Bahntrasse nördlich des Werders Kriechströme der niedrigen Frequenz von 16 2/3 Hertz abstrahlt. Sie sind über die Schienenstränge geerdet und werden in die nahen Gebäudefundamente geleitet. Die Stahlbetonskelette der Hochhäuser sind, so das Gutachten, „ein besonders guter Leiter für Kriechströme“. Und: „Die Stahlbetondecken wirken wie Kondensatoren und mit zunehmender Geschoßzahl potentialverstärkend.“ Das Gutachten verweist auf Forschungen des Bundesgesundheitsamtes zur Verträglichkeit elektromagnetischer Wellen. Dessen Versuche im Neuherberger Institut für Strahlenforschung haben jedenfalls ergeben, daß elektromagnetische Ströme Auswirkungen auf Wachstum und Blutbild von Tieren haben. Größere Lebewesen, wie zum Beispiel der Mensch, leiden besonders unter größeren Wellenlängen, wie niedrigfrequente Kriechströme es sind.

Auch sonst kommen die Hochhäuser im Gutachten nicht besonders gut weg. So hätten die Wintergärten und Loggien wegen der Fallwinde „nur geringen Nutzungswert“. Hintergrund dazu ist die anstehende Entscheidung über das Moabiter Werder. Auf dieser Gewerbefläche am Tiergarten-Rand sollen 1.200 Wohnungen in innerstädtischer Lage mit viel Grün anstehen, möglicherweise in - umstrittener - Hochhausform.

Ein zweites, noch nicht fertiggestelltes Gutachten des Büros „Topos“ stellt fest, daß die 1.200 Wohnungen plus die gewünschten Grünflächen nur dann realisierbar sind, wenn man Hochhäuser baut, es sei denn, man verzichtet auf die geplante zusätzliche Rampe neben dem S-Bahngleis, die zur ebenfalls geplanten Intercity-Waschanlage führen soll. Das will jedoch die Verkehrsverwaltung nicht. „Der Reiseverkehr wird zunehmen; wir brauchen mehr Gleise zum Reinigen, Wenden und Abstellen der Wagen“, heißt es dort.

Noch ungeklärt ist, wohin das Gewerbe auf dem Werder verlagert wird, vor allem die platzfressende Spedition Hamacher. Der Senat werde eine „schärfere Gangart“ einschlagen, die Spedition werde sich bis Mitte 1990 für eine der angebotenen Ersatzflächen entscheiden müssen, hieß es in der Umweltverwaltung. Heute um 19 Uhr findet dazu eine Diskussion im Rathaus Tiergarten statt.

esch