„Das ist der Staat: Herzen aus Stein“

Am 4.Dezember hat die Untersuchung des Fehlurteils der britischen Strafjustiz gegen die „Guildford Four“ begonnen / Ein Gespräch mit Paul Hill, einem der vier Betroffenen  ■ I N T E R V I E W

15 Jahre lang war der Ire Paul Hill (35) in britischen Gefängnissen unschuldig eingekerkert. Er war 1975 zusammen mit Patrick Armstrong, Carole Richardson und Gerard Conlon den „Guildford Four“ - für schuldig befunden worden, im Herbst 1974 IRA-Bombenanschläge auf Kneipen im südenglischen Guildford und Woolwich verübt zu haben. Ende Oktober 1989 wurden die vier freigelassen, weil die englische Generalstaatsanwaltschaft inzwischen davon überzeugt ist, daß die Geständnisse der vermeintlichen Bombenleger von der Polizei unter Folter und mit Drogen erzwungen wurden. In einem Brief an den britischen Innenminister Waddington haben Kardinal Basil Hume, die ehemaligen obersten Richter Lord Scarman und Lord Devlin sowie die beiden Ex-Innenminister Merlyn Rees und Lord Jenkins gefordert, daß die soeben begonnene Untersuchung die „volle Geschichte des Fehlurteils aufdecken“ muß. Zeugen, die vor dem Untersuchungsausschß aussagen, ist „teilweise Immunität“ zugesichert worden. Mit der Fertigstellung des Berichts ist jedoch nicht vor 1991 zu rechnen.

taz: Was ist es für ein Gefühl, nach 15 Jahren Gefängnis seit einigen Wochen wieder in Freiheit zu sein?

Paul Hill: Es ist surreal. Sehr surreal. Ich hatte mir das nicht so vorgestellt. In den ersten Wochen hatte ich nicht viel Kontrolle über mein Leben. Nun bin ich dabei, wieder nach meinem eigenen Gusto zu leben. Ich weiß, ich bin frei. Aber werde ich jemals wirklich frei sein? Für den Rest meines Lebens werde ich nicht Paul Hill, sondern einer der „Guildford Four“ sein. Und wie kann ich jemals ganz frei sein, wenn Leute mich nachts aus dem Bett klingeln und bitten, etwas für ihre zu Unrecht verhafteten und verurteilten Angehörigen zu tun? Es gibt unzählige irische Fälle, zum Beispiel die „Birmingham Six“. Das Problem ist, daß das niemals aufhört. Da stecke ich in einem moralischen Dilemma. Denn ich will mein eigenes Leben haben.

Wirst Du in Großbritannien bleiben?

Nein. Ich werde in die USA gehen. Meine Frau lebt in New Jersey (USA), und ich glaube, für mich wird es weit einfacher sein, in ihr Leben hineinzurutschen, als für sie, wenn sie hierher käme. Ich möchte sowieso nicht weiter hier leben. Wenn ich in England bliebe, müßte ich immer befürchten, daß der Staat sich eines Tages rächt. Sie könnten einfach kommen und mich umbringen.

Was wirst Du jetzt mit Deinem Leben anfangen, wo Du es selbst bestimmen kannst?

Ich will einfach normal leben. Zuerst will ich ein Buch schreiben über meine Erfahrungen. Damit werde ich wohl etwas Geld verdienen, aber was genauso wichtig ist, es wird auch einen therapeutischen Effekt haben. Was ich dann beruflich machen werde, weiß ich nicht. Bis auf eins: Ich werde niemals in meinem Leben wieder irgendeinen Job von neun bis 17 Uhr ausführen.

Du bist mit zwanzig ins Gefängnis gekommen. Wie alt fühlst Du Dich jetzt?

Ich bin jetzt eindeutig ein ganz anderer Mensch. Vorher war ich ziemlich naiv. Ich wußte nichts von den Mechanismen der Staatsmacht. Jetzt habe ich eine 15jährige Lehre hinter mir. Aber gleichzeitig bin ich in meinem Kopf immer noch 20, weil ich 15 Jahre lang nicht gelebt habe. Ich habe aus Büchern gelernt, aber nicht durch eigene Lebenserfahrung. Menschliche Beziehungen mit Emotionen kenne ich kaum.

Was hat Dich diese 15 Jahre am Leben gehalten?

Meine Unschuld. Ich habe von meiner Familie gehört, daß Gorbatschow bei seinem Besuch in Großbritannien unseren Fall als Menschenrechtsfall erwähnt hat. Ich habe auch Briefe von Leuten aus aller Welt erhalten, die ich überhaupt nicht kannte, aus Kanada, Helsinki. Ich wußte also, daß die Wahrheit verbreitet wird. Das hat zwar eine ziemliche Zeit gedauert. Aber ich war mir immer klar darüber, daß das Wasser sich erst sammeln muß, bevor es den Damm sprengt.

Gab es Zeiten, in denen Du nicht mehr daran geglaubt hast freizukommen? Der Richter hatte zu Dir gesagt: Lebenslänglich heißt bei Ihnen auch lebenslänglich.

Ich habe niemals daran gezweifelt, daß ich freikommen würde. Aber ich war natürlich zeitweise verzweifelt. Es ist schwierig, optimistisch zu sein, wenn man vollkommen nackt ans Bett gefesselt ist, mit einem zehn Zentimeter breiten Gurt um die Hüfte, die Hände rechts und links an den Gurt gebunden. Ich bin häufig geschlagen und schikaniert worden. Ich mußte insgesamt 1.600 Tage - über vier Jahre - in Einzelhaft verbringen. Dreimal bin ich ernsthaft verletzt worden. Einmal wurden neun Gefängniswärter wegen Körperverletzung an mir von einem Gericht verurteilt und ich erhielt 1.500 Pfund (4.500 DM) Entschädigung - ich, der als Massenmörder verurteilte IRA-Terrorist. Aber ich wußte, daß ich freikommen würde.

Was ging Dir durch den Kopf, als am 19.Oktober diesen Jahres der Richter im Old Bailey verkündete, daß Ihr freigelassen werdet?

Daß ich im selben Saal 1974 zu lebenslänglich verurteilt worden bin. Vom selben Stuhl hatte der Richter damals gesagt: Gäbe es noch die Todesstrafe, würden Sie gehenkt. Und noch etwas: Der Richter sprach jetzt von „einem unglücklichen Vorfall“. Das war alles, was wir, die wir 15 Jahre unschuldig im Gefängnis gesessen haben, bislang zu hören bekamen, selbst als die Generalstaatsanwaltschaft zugeben mußte, daß Polizisten gelogen und Beweise fabriziert haben.

Warum hast Du eigentlich 1974 dieses falsche Geständnis vor der Polizei gemacht, das Du vor Gericht später widerrufen hast und welches der einzige „Beweis“ der Staatsanwaltschaft war?

Ich war damals panisch vor Angst. Ich habe nicht logisch gedacht. Die Polizei hat mich brutal geschlagen. Die haben gedroht, meine 17jährige Freundin, die mit meinem Kind schwanger ging, lebenslänglich hinter Gitter zu bringen, wenn ich nicht gestehe. Und sie war auf derselben Polizeistation wie ich. Ich wollte sie unbedingt rausboxen. Ich hatte keinen Grund, an den Drohungen der Polizei zu zweifeln. Meine Freundin war ein 17jähriges irisches Mädchen. Carole Richardson, die Person, die sie schließlich verurteilt haben, war ein 17jähriges englisches Mädchen. Ich war der erste, der nach den Bestimmungen des „Gesetzes zum Schutze vor Terrorismus“ festgehalten wurde. Das heißt, ich hatte sieben Tage lang keinen Kontakt zu einem Rechtsanwalt oder irgend jemand anderem. Ich war naiv und gerade 20 Jahre alt. Ich bin verhört, beschimpft und geschlagen worden von Polizisten, die 35 Jahre Erfahrungen haben.

Die Regierung hat eine Untersuchung der damaligen polizeilichen Ermittlungen angeordnet. Meinst Du, daß so die Wahrheit ans Tageslicht kommen wird?

Ich begrüße jede ordentliche Untersuchung. Aber die Regierung hat kein volles unabhängiges öffentliches Untersuchungsverfahren, sondern ein internes angeordnet. Das ist, als ob man die Mafia auffordert, organisiertes Verbrechen zu untersuchen.

Wer ist eigentlich Deiner Meinung nach schuld an Eurer Verurteilung?

Das ganze System. Der Generalstaatsanwalt hat Zeugenaussagen unterschlagen, die uns entlasteten. Spurensicherungswissenschaftler haben kriminaltechnische Beweise entfernt, die bewiesen, daß andere Leute die Bomben gelegt haben. Die Polizei hat geschlagen und gefälscht.

Was muß geändert werden, damit sich so etwas nicht wiederholt?

Die Rechte jedes Verdächtigen auf Polizeistationen können ganz einfach gesichert werden: Ein Rechtsanwalt muß während aller Verhöre anwesend sein. Und dieses Gesetz zum Schutz vor Terrorismus, das erlaubt jemanden ohne Kontakt zu einem Rechtsanwalt bis zu einer Woche einzusperren, muß aufgehoben werden.

Die britische Regierung hat kürzlich erklärt, daß sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofs unbeachtet lassen will, in dem diese Bestimmung des sogenannten Anti-Terrorgesetzes als nicht mit der Menschenrechtskonvention vereinbar kritisiert wird.

Das zeigt, wie dogmatisch und brutal der Staat ist. Das sind eben Leute, die deine Wohnung in Belfast mit Äxten einschlagen und dich vor deiner Frau und deinen Kindern umbringen können. Soll ich mich da wundern, daß sie einen für sieben Tage festhalten können? Denen ist nicht peinlich, daß unser falsches Geständnis und die anschließende Verurteilung ohne diese Bestimmung des Anti-Terrorismus -Gesetzes kaum möglich gewesen wäre. Die haben Herzen aus Stein. Das ist der Staat. Herzen aus Stein.

Interview: Jerry Sommer