NEUE TRÄUME - ALTE RÄUME

■ Die selbsternannte Weltstadt entdeckt das Umland

Jahrzehntelang - exakt 28 Jahre - hatte Freund Piet aus Westberlin die Mark Brandenburg nahezu für sich allein. Wann immer ihm der Sinn danach stand, durchschritt er die mittelalterlich-neuzeitliche Stadtmauer und streifte durch Wälder und Dörfer. Grenzformalitäten und „Zwangs„umtausch schreckten ihn nicht. Die Zeit in der Mark schien stehengeblieben zu sein. Alles sah so aus, wie er es in Erinnerung hatte, als er noch im Kindersitz auf Mutterns Fahrrad saß, um Uroma in Königs-Wusterhausen zu besuchen. Die Straßen hatten Kopfsteinpflaster, die HO-Läden waren klein und düster, auf der Theke stand ein riesiges Bonbonglas, vor den Häusern schnatterten die Gänse. Fontanes Wanderungen kannte er nicht nur aus dem Heimatkundeunterricht. In den westdeutschen Reiseführern kam die Mark überhaupt nicht vor, noch nicht einmal als Geheimtip.

Aus! Vorbei!

Plötzlich ist die DDR „in“. Die Ignoranten aus dem Westen haben Neuland entdeckt und sitzen bereits in den Startlöchern, wenn am 1.1.90 die Visumsfreiheit herrschen und der Mindestumtausch aufgehoben sein wird. Fast drei Dekaden war das Land vor Westberlins Toren eine terra incognita. Um exotische Ferienziele zu erreichen, reichten Urlauber Wochen vor Reiseantritt die Pässe ein, ließen sich mit Impfspritzen malträtieren und nahmen Warteschlangen vor Flugschaltern und Grenzen in Kauf. Ein Visum im „Büro für Reise- und Besuchsangelegenheiten“ zu beantragen, sich in die Westberliner U-Bahn zu setzen, zum Bahnhof Friedrichstraße zu fahren und in die Ostberliner S-Bahn nach Oranienburg oder Erkner umzusteigen, das machten nur Rentner auf Verwandtenbesuch und spinnerte Menschen wie Freund Piet.

Aus! Vorbei!

Am ersten schönen Sommerwochenende wird es auf der F 96 von Berlin zur Ostsee „stop and go“ heißen, den Müggelsee wird man - von Surfbrett zu Surfbrett springend - trockenen Fußes überqueren können, im Spreeewald wird kein einziger Kahn mehr frei sein, und Sanssouci wird wegen totaler Überfüllung geschlossen sein.

Die Piefkes aus dem Westen werden sich die DDR erobern. Aber die Brüder und Schwestern im real nicht (mehr) existierenden Sozialismus sind auf der Hut. Wie aus gewöhnlich schlecht unterrichteten Kreisen zu erfahren war, plant die DDR-Regierung - wie seit Jahren in der VR China üblich -, eine spezielle Währung für Westtouristen zuzulassen: die Deutsche Mark. Hotelübernachtungen, Fahrkarten, Benzin, Speisen und Getränke sowie alle anderen Dienstleistungen werden die Besucher aus dem kapitalistischen Deutschland ab Ostern 1990 in DM bezahlen müssen. So entfällt das leidige Umtauschproblem, und der Devisen-Schwarzmarkt wird der Vergangenheit angehören.

Freund Piet wird im nächsten Jahr im Westen bleiben und von „früher“ träumen.

Reinhard Kuntzke