DDR-Presse: Umbruch im Umbruch

■ Zu Besuch bei der 'Berliner Zeitung‘, der 'Jungen Welt‘ und dem 'Neuen Deutschland‘ / Enormes Mitteilungsbedürfnis bei Lesern und Journalisten / „Springer“ will beim „Berliner Verlag“ einsteigen

Kartonweise stapeln sich die Leserbriefe in den schmucklosen Räumen der Ost-'Berliner Zeitung‘. Kartonweise enthalten sie ein wiederentdecktes Element des existentiellen Grundbedarfs: die Sprache, die Mitteilung, die Forderung.

„300 bis 700 Briefe kriegen wir pro Tag, das ist mehr als früher in einem Monat“, staunen die Frauen, die die Briefe betreuen und sortieren. „Meinungen (neutral)“, verheißt die Aufschrift einer Pappkiste, „Meinungen und Bekenntnisse“ eine zweite, aber auch die „Korruption“, die „Ausländer“, das „Neue Forum“ füllt einen ganzen Kasten. „Wir kommen gar nicht mehr nach mit dem Lesen“, stöhnt eine ältere, über die Stapel gebeugte Genossin, „geschweige denn mit dem Abdrucken.“ Eine andere Frau schüttelt den Kopf: „Aber die Aufforderungen zur Veröffentlichung sind geradezu ultimativ.“ Jeder und jede hat etwas zu fordern, vorzuschlagen, anzuprangern, als ob die Medien nun im Verfügungsrecht aller stünden. Unversehens sehen sich die Journalisten, da sie gerade erst den Druck von oben loswurden, dem Druck von unten ausgesetzt.

„Bei uns haben die Menschen noch ein anderes Verhältnis zu einer Zeitung als bei euch“, erklärt Hans Eggert, Chefredakteur der „Berliner Zeitung“ seit vier Wochen, einen weiteren Aspekt dieses Phänomens. Hier wiegt, Ergebnis der Mangelwirtschaft beim Lebensmittel Information, noch jedes Wort, vorläufig jedenfalls. „Druckfehler sind ein Ereignis“, grient der noch ziemlich junge Chef, der im Hinblick auf den alten „Feudalsozialismus“ als unbelastet gilt. „Die Leser erregen sich darüber, als ob sie sofort eine Revolution machen müßten. Bei jedem Fehler kriegst du zehn Leserbriefe, die du auch noch beantworten mußt, sonst bist du arrogant.“

Das Mitteilungsbedürfnis der DDR-Journalisten ist jedoch nicht weniger groß als das ihrer Leser. Nun öffnen sich mit dem Wort „taz“ alle Türen, überall wird die Kollegin aus West-Berlin äußerst freundlich empfangen und herumgeführt. Und immer wieder geht es um die Vokabel „früher“, mit der sich die Redakteure eine Last von der Seele reden. „Früher“, als Honecker via Nachrichtenagentur adn keinem Übersiedler „eine Träne nachweinen“ wollte und alle Presseorgane diesen Zynismus auf die vorderste Front plazieren mußten; „früher“, als die Redaktion nach einem Wutausbruch Günter Mittags einen Artikel zum Konsumgütermangel ein halbes Jahr still hielt und fast die „Wende“ verschlafen hätte;

Das soll nun alles anders werden. „Wir möchten gern die erste Zeitung des Landes werden“, sagt Bo Adam, Abteilungsleiter des Ressorts Außenpolitik.

Nachmittagskonferenz im Saal. Hier manifestiert sich die gegenwärtige Umstellung von Blei- auf Robotron-Computersatz in einer wilden Möbelhalde vor grauen Tapeten. Adams Stellvertreter überbringt die Zeitungskritik der Chefrunde vom Vormittag: „Also dieser Kommentar von dem FDJ -Apparatschik - das war Mist, da steht nüscht drin. Und hier wieder mal in einer Überschrift: 'prangert an‘ - diese Sprache sollten wir uns endlich abgewöhnen.“ Nebenbei wird die tazlerin gefragt, wie es sich denn ohne Chef arbeitet: „Das stünde auch uns gut an, ein bißchen von unserer Hierarchie einzusparen.“ Die wiederum staunt, daß es unter den rund 75 Redakteuren und 22 Redakteurinnen für bislang täglich acht Seiten mehr Posten in der Hierarchie zu geben scheint, als die taz-Redaktion Arbeitsplätze hat.

Aber wie soll es denn nun weitergehen mit dem Blatt, wenn die Millionenzuschüsse der Partei an den „Berliner Verlag“ im Zuge der neuen Trennung von Staat und Partei versiegen? Eine Erhöhung des jetzigen Verkaufspreises von 15 Pfennig scheint unausweichlich, „mit 50 Pfennig könnten wir bei gleichbleibender Auflage sogar Gewinn einspielen, auch wenn die realen Preise - beispielsweise für das kontingentierte Papier - schwer kalkulierbar sind.“ Und Springer? Denn bei zwei anderen Presseobjekten des „Berliner Verlages“ sind die devisenschweren Erben von Axel Cäsar in Verhandlungen über ein Joint Venture eingestiegen: bei der TV-Zeitschrift „ff -dabei“ und dem Frauenblatt „Für Dich“. „Trotz andersartiger Gerüchte: Es gibt kein Gespräch mit Springer“, dementiert BZ -Chefredakteur Hans Eggert, „und gegen eine Übernahme würden wir als linke Zeitung uns auch wehren.“

„Rettet die 'Junge Welt‘!“ Ein paar Treppen höher im Verlagshochhaus beim Alexanderplatz wirkt dieses Plakat fast schon wie ein Hilfeaufruf: „Zentralorgan der FDJ? Preis 10 Pfennig? Westwerbung? Eigenfinanzierung? Täglich 16 Seiten? Macht radikale Vorschläge!“

Der 25jährige Jens König, neuer Chefredakteur der „Jungen Welt“ seit dem Rücktritt des alten FDJ-Zentralrats Ende November, hat leider keine Zeit für radikale Vorschläge: Die Erstausgabe der mit 1,6 Millionen Auflage immer noch größten, aber mit acht kleinformatigen Seiten auch dünnsten DDR-Tageszeitung muß fertiggestellt werden. Auch sein Stellvertreter Roland Etzel, mit 39 Jahren nicht mehr ganz repräsentativ für eine Jugendzeitung, macht hinter dem obligatorischen Leserbriefstapel einen etwas gestreßten Eindruck. „Hier, sehen Sie: - Diese Doppelseite entstand als... Die Gruppen fragen nicht mal mehr, ob wir Platz haben, sie schreiben einfach und fordern den Abdruck.“

Was wird denn aus den 40 Redakteuren und 40 Redakteurinnen der „Jungen Welt“, wenn die FDJ sich auflöst oder umfunktioniert? „Das wird der Runde Tisch der Jugendverbände zeigen, an dem auch über die Medienfrage diskutiert wird. Auch JuliA, die Jungliberale Aktion der LDPD, und CDJ, die Christlich-Demokratische Jugend der DU, fordern nun ihre eigenen Organe. Wir sind gegen eine Lösung, bei der das Papierkontingent unter 15 Jugendverbänden aufgeteilt wird. Aber wir haben unsere Zeitung auch für andere Gruppen geöffnet und halten es für möglich, daß wir irgendwann ein Blatt für die ganze Jugend der DDR sein können.“

Auch ohne SED-Finanzen im Rücken? „Tageszeitungen galten bisher als Waren des Grundbedarfs, vor allem die Anzeigen wurden subventioniert. Bei einer Verdopplung des Einzelpreises von 10 Pfennig würden wir plusminusnull wirtschaften.“ Roland Etzel bläst ein wenig unsicher Aschenkrümel von den Manuskripten. „Wir bemühen uns um neue Werbekonzepte, jetzt haben wir die ersten Westanzeigen des Verlags Elefantenpress hineingenommen. Bei einer möglichen Kooperation mit westlichen Firmen wollen wir keinesfalls die letzten sein. Aber reinreden lassen wollen wir uns auch nicht - eine gutbezahlte Annonce für die Wiedervereinigung kommt hier nicht rein. Diese Woge bekommt derzeit eine schmutzige Krone.“

Sieht so ein Flaggschiff aus? Ein häßlicher Funktionsbau aus den siebziger jahren beherbergt am Franz-Mehring-Platz das Zentralorgan, das nun mühsam alte Verrufenheit mit einem neuen Kurs zu heilen versucht. „Früher hat eine ganze Abteilung abends den Erfolg gefeiert, wenn ein kleiner kritischer Nebensatz untergeschmuggelt werden konnte, dutzend evon Artikeln mußten wir in der Schublade verschwinden lassen. Heute können wir die Dinge endlich journalistisch anpacken“, erleichtert sich ein Redakteur.

„Katharsis“, das ist das Wort, das der redefreudige Chefkommentator Gerd Prokot dafür wählt. „Jahrelang wurden wir hier vom ZK gefüttert. Das hat das journalistische Handwerkszeug, die Sprache und die Recherche, verkümmern lassen. Aber bevor Sie Ihr Taschentuch rausholen - das nimmt nichts von unserer Schuld, uns bestimmten Dingen verweigert zu haben.“ Er schließt die Augen und lehnt sich im Sessel zurück - eins von den Möbelstücken undefinierbarer Farbe, das den Mitgliedern des neuen Leitungs-„Kollegiums“ zur Verfügung steht, seit die alte Chefredaktion am 10. November fast geschlossen zurücktrat.

Die neue Rolle der Zeitung möchte Prokot gerne nicht nur mit einem neuen Format und Layout, sondern auch in einem Redaktionsstatut festschreiben: „Wie ist das denn bei Ihnen? ich habe sowas ja noch nie gesehen. Vielleicht sollten wir einen Redaktionsbeirat installieren - öffentliche Kontrolle der Zeitung durch Leser und Parteimitglieder.“ Und was passiert, wenn die Millionensubventionierung durch die Partei wegfällt? Tatsächlich, sagt Prokot, liegen die Kosten für die Zeitungserstellung um das „drei- bis vierfache höher“ als der jetzige Verkaufspreis von 15 Pfennig pro Exemplar, eine Preisanhebung sei also „unausweichlich“. Ein Ausweg für's erste ist auch hier, seit etwa drei Wochen, die Hereinnahme von nichtsubventionierten Westanzeigen. Und wenn der neuerdings praktikzierte ND-Verkauf an West-Kiosken gut läuft, verrät Vizeredakteur Michael Müller seinen neuen Traum, könne man „vielleicht auch drüben drucken“.

Bei der staatlich finanzierten und seit 1953 dem Ministerrat unterstellten Nachrichtenagentur adn rappelt es ebenfalls im Karton. „Die Redaktionshoheit muß unbedingt gewahrt bleiben“, fordert ein Mitarbeiter, „damit wir das Diktat des ZK nicht mit dem Diktat einzelner Gruppen austauschen.“ In dieser Woche beginnen am Runden Tisch Verhandlungen mit diversen geladenen Gruppen, Parteien und Medien über die adn, die voraussichtlich nach bundesdeutscher Manier zum öffentlich-rechtlichen Modell inklusive Gruppen-Beirat umgewandelt werden soll.

Parallel dazu verhandelt die Agentur aber auch über eine Vereinbarung mit dpa zur gegenseitgen Generalvertretung. Weil es ein „besonderes Interesse an grenznaher Berichterstattung“ gebe, wird nun beispielsweise zwischen Erfurt und Hessen, Suhl und Bayern „eine Kooperation über die Grenzen hinweg“ erprobt.

Ute Scheub