: PANGERMANISMUS
■ Der Territorial-Terror paranoider Primaten
Was haben wir eigentlich davon, wenn der Staat, dem wir angehören, groß, mächtig und geachtet - „spitze“ (H. Kohl) ist? Die ersten Siedlungen, die domestizierte Primaten vor 11.000 Jahren gründeten, dürften vergleichbar gewesen sein mit einigen Rudeln Wölfen, die sich zusammenschlossen, um ihrem Tagwerk fortan gemeinsam nachzugehen. Die Anthropologen werden nicht müde, die zivilisatorische Leistung dieses Kollektiv-Projekts zu rühmen, hatten doch die einzelnen Alpha-Männchen bis vor kurzem noch ihre Territorien mit Exkrementen abgesteckt, bereit, jeden Eindringling mit den Grenzmarkierungen zu bewerfen. Noch nach vielen tausend Jahren, in denen neue Technologien der Produktion und der Mobilität sowie fortschreitende Kultivierung raubtierhafter Prägungen längst größere Zusammenschlüsse als die ersten Dörfer möglich machten, erinnert eine Redewendung an die archaischen Zeiten der Evolution: Bis heute ziehen die domestizierten Primaten in den Krieg, um ihren Gegnern „die Scheiße aus dem Leib zu prügeln“. Ist die Operation erfolgreich (oder zeigt der Gegner freiwillig Schiß und unterwirft sich), wird das Territorium neu abgesteckt.
Mit der steigenden Zahl und Heterogenität der Bewohner gerät der Landgewinn starker Primatenbanden irgendwann an den kritischen Punkt, an dem Hierarchie und Hackordnung zu zerfasern drohen, Stabilität im Inneren läßt sich nur aufrecht erhalten über einen äußeren Feind, gegen den sich alle zusammenschließen müssen, weil er angeblich allen ans Eingemachte will. An dieser Stelle im Häufchen-Spiel humanoider Organisationsentwicklung schlägt die Stunde der Nation, des Primaten als Patrioten, der gegen eine angebliche Übermacht (die als „Barbaren“, „Juden“, „Reich des Bösen“ dämonisiert wird) seine Sicherheitszone auf das gesamte Territorium ausdehnt. Nicht das Bedürfnis nach Handel, Wandel und Kommunikation liegt dem Entstehen von Nationen zugrunde, sondern Paranoia. Einige Anthropologen sehen in diesem Verfolgungswahn das entscheidende Movens der Evolution: Angst treibt den Primaten zum Fortschritt, der Krieg ist der Vater aller technologischen Entwicklung.
Mit der Entstehung gigantischer Verteidigungspakte, die sich gegenseitig mit zigfacher Overkill-Kapazität drohen, hat die Paranoia der domestizierten Primaten, die sich längst für was Besseres halten, in diesem Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Gleichzeitig scheint sie aber auch an ihr Ende gekommen: das Durchsickern der elektronischen Kommunikation in die hintersten Zipfel der Welt hat tatsächlich so etwas wie ein globales Dorf hergestellt. Dort entwickelte sich ein erster anti-paranoischer, trans -nationaler, hurra-planetarischer Dialekt und brach in den sechziger Jahren durch: Rock'n'Roll. Weltweit begann eine junge Generation, die anal-territoriale Phase der Evolution hinter sich zu lassen, den Patridiotismus durch globale Vernunft, paranoide Vaterlandsverteidigung durch praktische Graswurzelrevolution, fixierte Autorität durch dezentrale Autonomie zu ersetzen. In den Macht-Positionen halten sich freilich immer noch die Alpha-Männchen; dies zeigte sich deutlich nach dem 9. November: Im Land der Dichter und Denker reproduzieren selbst aufgeklärte Primaten wie der 'Spiegel'-Chef Augstein oder der Sozialisten-Senior Brandt roboterhaft die Säugetier-Prägungen „Nation“, „Vaterland“, „Patriotismus“. Und fallen mit diesem steinzeitlichen Pangermanismus hinter alle Geistesgrößen zurück, die sie sonst, als Fackel der Aufklärung, der affenartigen Dumpfheit der Welt entgegenhalten. Lessing: „Ich habe von der Liebe des Vaterlands keinen Begriff, und sie scheint mir aufs höchste eine heroische Schwachheit, die ich recht gern entbehre.“ Goethe: „Römerpatriotismus? Davor bewahre uns Gott wie vor einer Riesengestalt!“ Schiller: „Das vaterländische Interesse ... ist ein armseliges, kleinliches Ideal, einem philosophischen Geiste ist diese Schminke durchaus unerträglich.“ Dem allgemeinen Deutschland-Delirium zum Trotz kann also die Eingangsfrage, was uns ein vereinigtes Deutschland nützt, ganz klar beantwortet werden: überhaupt nichts!
Mathias Bröckers
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen