Die unbefahrbare Straße

■ Ost-Berliner Premiere von Müllers „Wolokolamsker Chaussee I-V“

Gerangel um die Berliner Aufführungsrechte, der brisante politische Zeitpunkt der Premiere, das Debüt des Schweriner Erfolgsregisseurs Christoph Schroth - all das ließPublikum und Fachkritik auf ein furioses Theatererlebnis hoffen. Zumal mit einem Text von Heiner Müller, der auf die Agonie des Systems nicht mit hintersinnigen Intellektuellen-Bonmots oder vordergründigen Kabaretteffekten reagiert, sondern in lakonischer Schärfe und mit historischem Atem die jetzige Situation sowohl aus der faschistischen Machthysterie als auch aus der stalinistischen Apokalypse erklärt. Doch das Berliner Premierenpublikum war eher zurückhaltend.

Schroths Inszenierung, eine Gemeinschaftsproduktion des Berliner Ensembles und des Theaters im Palast, wurde überrascht vom schnellen Lauf der Dinge, verfing sich in empirischer Trauerarbeit und theatralischer Askese verursacht wohl auch durch eine allzu spürbare Achtung vor der Autorität des Dramatikers und seiner Sprachgewalt. Sinnliches, körperbetontes, frei assoziatives Theater, sonst eine Domäne des ehemaligen Schweriners, sah man im Ostberliner Filmtheater am Friedrichshain, der Ausweichspielstätte des Berliner Ensembles, leider kaum. Statt dessen wurde der Text zäh, bisweilen langweilend, durch chorische Deklamation, Textwiederholungen und vergröbernde Bilderwahl intellektuell überanstrengt auf die Bühne gebracht.

Doch die „Wolokolamsker Chaussee“, jene metaphorische Straße der permanenten Kastration sozialistischer Utopie von Moskau bis Berlin, von Stalin bis Ex-Stasi-Chef Mielke, ist wohl im Dezember 89 nicht einfach nur baufällig, sondern schlicht unbefahrbar geworden. So wirken die in der Inszenierung verhandelten und mit einem Schuß Zeitgeist (Zitate von Biermann bis Mittag) aufgemöbelten ehemaligen Tabufelder sozialistischer Geschichtsschreibung zum heutigen Zeitpunkt nur noch wie schwach beleuchtete Schaukästen in einem schwerlich mit hohen Besucherzahlen rechnen dürfenden Museum einer sich selbst mißkreditierenden Utopie. Denn wer die Wahrheit über den Juni 53, Ungarn 56, den Prager Frühling oder die Korruptions- und Gewaltmaschinerie der Stasi wissen will, braucht nach der „Wende“ in Politik und Öffentlichkeit nun wahrlich nicht mehr ins Staatstheater zu gehen. Die früher vielgscholtenen DDR-Medien löschen solcherart Wissensdurst in zunehmend sensationsbetonter Manier in viel aufregenderer Weise. Das Theater, seiner Ventilfunktion entledigt, stöhnt nun unter der Last des neuen, eigentlichen Anspruchs und sucht in seinen besten Protagonisten nach eigenen Wegen. Ob der Weg von Christoph Schroth gangbar ist, wird nach Wegfall des Zwangsumtausches auch von der Bereitschaft der Theaterenthusiasten aus Westberlin abhängen, sich mit Distanz und Erfahrungsdefizit einem Geschichtsbild zu stellen, das in vier Stunden für zehn Ostmark nachvollzieht, was der andere Teil des Publikums in vierzig Jahren live erlebte. Aus solcher Sicht setzte Schroth nicht so sehr auf die Transparenz des Gestrigen, sondern pokert, mit hohem Einsatz freilich, eher auf morgen.

Paul Kaiser