Die verspielte Angst

■ Ödön von Horvaths selten gespielte „Bergbahn“ in Konstanz

Draußen herrscht Horvath-Wetter. Alleebäume, die der Föhnsturm biegt, erinnern an den Tod des Autors in Paris, erschlagen von einem herabstürzenden Ast. Drinnen heult dem Publikum ein Bergsturm um die Ohren. Auf einer schneeweißen Schräge (Bühne: Hans Georg Schäfer) zeigt das Stadttheater Konstanz Horvaths frühes Stück Die Bergbahn.

Es ist Oktober. Acht Arbeiter und eine Frau leben zusammengepfercht in einer Baracke im Hochgebirge. Das milde Herbstwetter droht jeden Tag umzuschlagen. Noch vier Tage müßte es halten, damit ein Hilfsseil bis zur Höhenmarkierung 3018 hochgezogen und der Zeitplan für den Bau der Bergbahn eingehalten wären. Der Ingenieur, der das Projekt geplant hat, leitet die Arbeiten, ein Aufsichtsrat der Bergbahn AG macht einen Kontrollbesuch. Spannungen brechen in der Mannschaft auf, als ein Arbeiter tödlich verunglückt. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Arbeitern und der Betriebsleitung. Am Ende sind drei Arbeiter und der Ingenieur tot, der Aufsichtsrat holt die Polizei. (Und was macht die Frau? d.S.)

Realer Hintergrund des Stücks sind Todesfälle und der Einsatz der Gendarmerie gegen revoltierende Arbeiter beim Bau der Zugspitzbahn 1925. Der zeitgenössischen Presse -Euphorie über die technische Leistung stellte Horvath die Fragen des Brechtschen Arbeiters entgegen. Diese Nähe zum Heros gesellschaftskritischen Theaters war wohl dafür verantwortlich, daß Die Bergbahn in der Horvath -Renaissance der siebziger Jahre weitgehend unbeachtet blieb: Nach der Lektion über die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in der Gesellschaft wurden der Kampf der Geschlechter, die Macht der (auch inneren) Natur, die Verblendungskraft der Sprache, die Dynamik zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein aktuell. Die „Bergbahn“ ist zwischen dieser (künstlichen) Antithese situiert. Sie zeigt das erwachende Klassenbewußtsein der Arbeiter, das Profitinteresse des Aufsichtsrats und den menschenverachtenden Ehrgeiz des Ingenieurs. Sie führt aber auch Haltungen der Angst und Abhängigkeit vor, zeichnet Bilder der Vereinzelung und Hilflosigkeit, zeigt die Gewalt der Natur und die Klischees und Wünsche der Akteure.

Regisseur Ulrich Khuon sucht in Konstanz für beide Aspekte einen gemeinsamen Nenner in einer Bildersprache, die Horvaths Forderung nach Stilisierung gerecht wird. Doch die Akteure wirken - in ihrem Bemühen um Bildhaftigkeit - oft leblos und chargiert. Der Aufsichtsrat (Klaus Redlin) beispielsweise, der im Schneefeld mit den Drohungen der Aktionäre herumfuchtelt und nur mit Mühe seine persönliche Angst niederhalten kann, entlarvt sich als lächerliche und gefährliche Figur. In seinen übergroßen Bergschuhen, den roten Strümpfen und dem Kniebundanzug fällt er den Hang hinauf, genießt den „teuflischen Sturm“ und beneidet die Arbeiter um die frische Luft. Wenn sein Ingenieur (Markus Graf) Arbeiter erschießt, sitzt er bei Alkohol und Kotelettes, raucht eine Zigarre und droht mit der Polizei. Auf diese Weise entstehen Abziehbilder, die jeder kennt, nicht aber soziale Haltungen, die interessieren. Zumal den Gruppierungen häufig Bilder zugrunde liegen, die bereits gesehen wurden. Der Ingenieur, der die Pistole zieht, auf der einen, die Gruppe der Arbeiter auf der anderen Seite das ist ein klassisches und inzwischen leergelaufenes Gestaltungselement aus der Ikonographie der industriellen und politischen Revolutionen.

Solche oberflächliche Bedeutungshaftigkeit verhindert, daß das Politische da sichtbar wird, wo Horvath es zuerst gesehen hat: in den Klischees und Illusionen der Köpfe. Dabei hätte man das doch gekonnt: Wie der Haufen geschundener Arbeitstiere in Andacht erstarrt, als Sliwinski (Hermann Ruhr) eine Kitschmelodie voller Sehnsucht auf der Mundharmonika spielt, wie sie mit dünnen Stimmen singen „Denn auf den Bergen / da wohnt die Freiheit / Ja, auf den Bergen / Da ist es scheen“, das bringt den Zuschauern mehr als jede Zeigefingerdramatik ihr Elend nahe. In solchen Momenten gelingt plötzlich auch eine atmosphärische Dichte, wie sie Khuons Inszenierung von Kipphardts März auszeichnete. Die Bergbahn zeigt die vielfältige Angst der Figuren als nicht zu beruhigendes Motiv. Wie sie in ihnen jeweils politisch wirksam wird, wäre ein spannendes Thema gewesen.

Gerhard Mack