Wir dürfen nicht werden wie sie

Anstatt eines Nachrufs auf die Stasi: Rede von Jürgen Fuchs in Ost-Berlin zum Tag der Menschenrechte am 10.12. gegen eine Atmospäre des Jagens und Richtens  ■ D O K U M E N T A T I O N

Welcher Druck lag über dem Land. Als Schriftsteller hatte ich Anfang der siebziger Jahre versucht, Themen aufzugreifen, die zum Tabu erklärt worden waren, zum Beispiel Kasernenhof, Stasi, Zensur, der Einzelne und die Macht. Und nicht früher, vor 45, sondern jetzt, vor Ort, in der DDR. Wolfgang Borcherts Satz beschäftigte mich: „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin.“ Wir waren wieder angetreten auf einen Pfiff hin. Mit achtzehn landete ich in einem „Grundwehrdienst“, trug Stiefel und Stahlhelm. Wie viele Jahrgänge wurden so geprägt. Mit altem Jawoll und Zu-Befehl. Und längerverpflichten sollten wir uns, „Werde auch Du Soldat auf Zeit“. An unser Fortkommen sollten wir dabei denken, an die Studien- und Arbeitsmöglichkeiten. Und viele dachten daran und verpflichteten sich, weil es „eben so war“, weil einem angeblich „nichts anderes übrigblieb“. Als ich Kaserne und Stasi-Verhöre erlebte und mich zu wehren begann in kurzer Prosa, kam ein neues Kapitel, kamen Vorladungen, die Rausschmisse, die letzten Angebote, kam Haft und Abschiebung. Ich rede davon, weil heute der Tag der Menschenrechte ist. Und weil das „Ministerium für Staatssicherheit umbenannt wurde in „Amt für nationale Sicherheit“, was ein Witz ist und eine Herausforderung. Überhaupt kein solches Amt soll es mehr geben! Und weil Kerzen stehen vor ihren „Dienstgebäuden“. Und weil ich drin saß in ihren Zellen und Vernehmungsräumen, darum rede ich heute davon. Weil wir uns erinnern müssen, weil es keinen guten Weg gibt ohne die Fakten und ohne das, was sie Menschen angetan haben. Die Freunde vom Neuen Forum stehen da mit ihren Spruchbändern, fassen sich and den Händen, „keine Gewalt“. Sie schützen die Demonstranten und schützen sich selbst vor ihrer Wut, vor Provokationen und Durchdrehen. Denn schnell werden aus Opfern Täter. Und weil so viel Druck lag über dem Land, weil wir lange Angst hatten und uns duckten, viele flohen in Not oder demonstrierten, obwohl der Schießbefehl erteilt war, weil das alles unser Leben bestimmte, rede ich davon. Es kommt jetzt nicht auf schlaue Sätze an, die man sagt, und fertig. Wir können uns auch wiederholen. Die Frau, die im Zuchthaus Hoheneck Jahre verbrachte, soll lange berichten. Und nicht weghören, nicht nach Hause gehen, auch wenn es kalt ist oder es einem mulmig wird bei diesen Dingen. Zeugnis muß abgelegt werden, um aufzuatmen, um darüber hinwegzukommen. Um die endgültig zu entmachten, die uns quälten. Und die viel Macht hatten und haben, auch in anderen Ländern. Was passiert in der Türkei, im Iran, in Kuba?

Und den Minister Mielke frage ich, auch den stellvertretenden Minister Markus Wolf, denn sie waren ja viele Jahre Minister und also verantwortlich: Kennen Sie die Entschließung der UNO zum Thema Folter? Dort heißt es, ich zitiere:

„Unter Folter ist jede Handlung zu verstehen, durch die einer Person von einem Träger staatlicher Gewalt oder auf dessen Veranlassung hin vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie für eine tatsächliche oder mutmaßliche von ihr begangene Tat zu bestrafen oder sie oder andere Personen einzuschüchtern.„ (ai-Tb 3441, Fischer, S.8

Uns wurden in diesem Land von diesem Ministerium vorsätzlich starke geistig-seelische Schmerzen und Leiden zugefügt, den Demonstranten vom 7. und 8. Oktober 1989 auch physische. Und dies, um uns und andere Personen, die ganze Gesellschaft, einzuschüchtern. Von der politischen, gewaltfreien Arbeit abzubringen. Um das Schreiben von Gedichten zu kontrollieren, um Bücher zu verhindern, die Tabuthemen behandeln. Um Solidarität, zum Beispiel mit politischen Gefangenen oder Ausgebürgerten, zu verhindern. Um das Klima der Angst, das einen selbst vom Mitmenschen abtrennt und ohnmächtig werden läßt, zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Man muß sich nur das politische Strafrecht ansehen. die Paragraphen 99, 106, 107, 214, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223 des Strafgesetzbuches der DDR, das immer noch voll in Kraft ist. Wie viele wurden durch diese Paragraphen bedroht, verängstigt, „befragt“ und „angeworben“ oder verknastet und abgeschoben. Wieviel Leid kam auch über die Familien! Und ich frage die Psychologen im Dienste der Staatssicherheit, mit einigen habe ich in Jena studiert von 71 bis 75: Ihr habt euch Wissen angeeignet in Diagnostik und Therapie: Wozu habt ihr euer Wissen verwendet? Wo sind die Vernehmer, die Untersuchungsführer, wo sind die Verantwortlichen? Rundgänge durch Gebäude genügen nicht, da hört man von ihnen nur allgemeines Gerede.

Und wenn man sich dann noch überlegt, daß Mitbürger Jahr für Jahr mit Hilfe dieses politischen Strafrechts abgeurteilt wurden und als fester Haushaltsposten zum Verkauf auf Listen standen... Und andere Staaten gezwungen wurden, wenn sie helfen wollten, auf diese Zahlungen einzugehen, denn man wollte ja rausholen aus Bautzen und Hoheneck, wenn man sich das mal in Ruhe überlegt, weil es ja um Menschen geht, für die ein „materieller Gegenwert“ verlangt wurde, und die zuerst ihre Freiheit verloren, dann ihr Zuhause ... wenn man das einmal bis zu Ende denkt und die vielen Jahre hinzurechnet, die Zahl der Betroffenen auch, dann weiß man, in welchen Zeiten wir noch bis vor kurzem lebten. Und dann weiß man, was die Menschen in Rumänien und China auszuhalten haben bis heute. Ich möchte noch ein Gedicht vorlesen und von einer kleinen Begebenheit erzählen. Das Gedicht ist von Johannes Bobrowski und heißt „Das Wort Mensch“:

„Das Wort Mensch als Vokabel

eingeordnet, wohin es gehört, im Duden: zwischen Mensa und Menschengedenken

Die Stadt

alt und neu

schön belebt, mit Bäumen

auch

und Fahrzeugen, hier

hör ich das Wort, die Vokabel

hör ich hier häufig, ich kann

aufzählen von wem, ich kann

anfangen damit.

Wo Liebe nicht ist,

sprich das Wort nicht aus.“

Und die Geschichte: In einer Demonstration von Solidarnosc wird einer vom Geheimdienst entdeckt, ein ehemaliger politischer Häftling hat ihn vielleicht erkannt, die Leute sind wütend, greifen zu. Adam Michnik kommt ihm zu Hilfe, verteidigt diesen Menschen, der in Not ist, der Angst hat. Und sagt, auch wir könnten dieser da sein, mit ein paar anderen biographischen Daten. Und das soll am Schluß stehen: Daß wir nicht werden wie sie, daß wird nicht heimzahlen in gleicher Währung! Offenlegen, Wahrheit, Gerechtigkeit, das ja, Zusammenarbeit mit der sowjetischen Gruppe „Memorial“, die die stalinistischen Verbrechen enthüllt und den Opfern versucht zu helfen. Untersuchen aller Fälle von Repression! Auch muß endlich geklärt werden, unter welchen Umständen der 25jährige Feinmechaniker Matthias Domaschk in der Stasi-U -Haft Gera zu Tode kam im April 81. Aber wir, liebe Freunde, dürfen nicht werden wie sie und nach der Atmosphäre der Angst und des Drucks eine Atmospäre des Jagens und Richtens dulden. Menschenrechte, Zerstören des stalinistischen Apparates, wie es der Regisseur Frank Beyer in Ost-Berlin forderte, aber auch Geduld, Milde, Verzeihen. Weil sonst dieser Krieg nach innen immer weitergeht. Und er soll aufhören, er soll endlich aufhören.